Auf dem Sofa_02



Tagebuch meiner Lektüren
Februar 2009

Auf dem Sofa_02Tagebuch meiner Lektüren: Februar

Am 5. Februar kommt mit der Post wieder ein ganzer Berg Bücher, so MARY ELLEN JORDAN HAIGHT: SPAZIERGÄNGE DURCH GERTRUDE STEINS PARIS. AUS DEM AMERIKANISCHEN VON KARIN POLZ. ARCHE ZÜRICH 1989. Hinten bisschen zerdatscht. Fünf Spaziergänge durch Paris, Rive Gauche. Sehr schöne Luftaufnahme von der Ile de la Cité und der Rive Gauche. Viele Fotos, so viele Leute! Und alle lebten und arbeiteten in Paris. Ansteckend lebendig. Das ist jetzt Berlin. Auf Seite 100, ungeheuer berührend, ALICE B. TOKLAS als alte Frau (1955) vor dem PICASSO-Porträt von GERTRUDE STEIN. ––– Und eine dieser Frauen war DJUNA BARNES, deren eigenes kleines Paris-Buch, PARIS, JOYCE, PARIS. AUS DEM AMERIKANISCHEN VON KARIN KERSTEN. MIT EINEM NACHWORT VON KYRA STROMBERG. INSEL TB 3294 2007, gleichfalls heute, am 5. Februar, ankam – und da das nur so ein Büchelchen ist, das man während zweier S-Bahnfahrten wegliest, tat ich das auch gleich, aber es hätte mich nicht sonderlich interessiert, wenn es nicht auch zwei Seiten zu GERTRUDE STEIN enthielte – es gibt Sachen von BARNES, die weit besser sind. Ihr subjektiver Zugriff auf die Dinge und Leute kann einen auch ganz schön nerven. Ein bisschen zu gewollt frivol, übermütig, anspielungsreich. Sie benutzt ein Erzähler-Ich, lässt von diesem »Ich« dann aber zu wenig gucken. Ihre Übergänge sind nicht gelungen. Sie wirken oft willkürlich-abrupt, unelegant – angesichts ihres Gegenstands, Paris, schon fast ein Verbrechen. Die paar guten, schönen, interessanten, neuen Gedanken gehen unter. In dem ersten Text des Triptychons schildert sie ihre erste Reise nach Paris, dann kommen ein paar Seiten zu JOYCE, den sie dort trifft, dann ein Nachruf auf das Leben an der Rive Gauche mit ein paar schönen Bemerkungen zu COCTEAU. (Und hier sei, weil das zweimal im Buch herausgestrichen wird, die Frage erlaubt, warum Männer – in diesem Falle JOYCE – so stolz darauf sind, mit anderen nur über Belangloses zu reden und reden zu wollen und keinerlei Interesse an Kunstgesprächen zu haben; vielleicht weil sich dann zeigen würde, dass sie die anderen – Schriftsteller, Künstler – nur in Bezug auf sich selbst wahrnehmen – also so weit sie ihnen nützen oder schaden oder von ihnen gelesen werden?; wenn man genau hinsieht, bedeutet es also immer, dass sie nur über ihr eigenes Zeug sprechen wollen, und das tut JOYCE dann hier bei Barnes auch ständig.) ––– Und gleichfalls an diesem 5. Februar, aber nur zur Vervollständigung der Bibliothek und zur Relektüre, denn gelesen habe ich es schon, GERTRUDE STEIN: AUTOBIOGRAPHIE VON ALICE B. TOKLAS. AUS DEM AMERIKANISCHEN VON ROSELI UND SASKIA BONTJES VAN BEEK. ARCHE ZÜRICH 1959. Leider hat der Absender das Buch mit einem furchtbaren Aufkleber hinten auf dem Umschlag verschandelt (so einer, der nicht abgeht, ohne das Buch zu beschädigen). ––– »Berühmtheit war für Gertrude kein Kriterium, weder bei ihren Freundschaften noch bei ihren Wortporträts«, heißt es in ANDREA WEISS: PARIS WAR EINE FRAU. DIE FRAUEN VON DER LEFT BANK. DJUNA BARNES, JANET FLANNER, GERTRUDE STEIN & CO. AUS DEM ENGLISCHEN VON SUSANNE GOERDT. BÜCHERGILDE GUTENBERG 1996, das am 9. Februar mit der Post kam, und es ist wieder mal so ein Buch, in dem die Frauen nur mit ihren Vornamen auftauchen – DAS REGT MICH IMMER SO AUF!, noch viel mehr, wenn das Buch von einer Frau geschrieben wurde. Und zwar aus zwei Gründen: fehlender Achtung und falscher Anbiederung, als hätte die Autorin die von ihr beschriebenen Personen von klein auf gekannt und wäre wer weiß wie intim mit ihnen gewesen. Aber selbst wenn es so wäre, erforderte der Respekt, sie – wie ihre männlichen Kollegen – mit dem Nachnamen oder, wenn es denn partout sein muss, mit Vor- und Nachnamen auftreten zu lassen. Natürlich habe ich zuerst das Kapitel über GERTRUDE STEIN gelesen. Darin: »Wie alle anderen, so glaubte auch Gertrude Stein, daß das Genie männlichen Geschlechts sei. In ihren frühen, unveröffentlichten Notizbüchern schrieb Gertrude über den Künstler Elie Nadelman: ›Nadelman besitzt, wie auch Pablo und Matisse, eine Männlichkeit, die zum Genie gehört ... Reine Leidenschaft konzentriert auf eine Vision.‹ Wenn aber zum Genie die Männlichkeit gehört, was bedeutete das dann für Gertrude Stein? Nach so vertraulichen [vertraulich?, weil Picasso »Pablo“ genannt wird – sieh mal an!] Äußerungen über Picasso und Matisse schrieb sie etwas zögernder: ›Vielleicht moi aussi‹. Vielmehr als eine biologische Gegebenheit, interpretierte sie Männlichkeit als eine soziale Rolle. Und dies schloss sie nicht aus dem Kreis der Genies aus. Denn in ihrer Beziehung zu Alice [B. Toklas] nahm sie die herkömmliche männliche Rolle ein oder, um es mit den Worten von Catherine R. Stimpson zu sagen: ›Während sie die Regeln der Sexualität verletzten, befolgten sie jene der Geschlechter.‹« ––– Und dazu noch ein Originalenglischgeschlechtersprachverwirrspiel (aus DIDN'T NELLY AND LILLY LOVE YOU von 1922), in dem die Begegnung zwischen TOKLAS und STEIN beschrieben wird – und das sofort STEINsches Leseentzücken auslöst:

 

It was a coincidence that he moved there and that she stayed there and that they were and that he became to be there and she came not to be fair, she was darker than another, how can a sky be pale and how can a lily be so common that it makes a hedge. I do know that she never met him there ... We never met ... Now actually what happened was this. She was born in California and he was born in Allegheny Pennsylvania.

... I love her with an a because I say that she is not afraid.

How can I tell you of the meeting.

... She came late I state that she came late and I said what was it that I said I am not accustomed to wait. We were so wifely.

 

EXKURS: Die großartigen, hochmusikalischen, doppel- und tripeldeutigen Titel von GERTRUDE STEIN: BEFORE THE FLOWERS OF FRIENDSHIP FADED FRIENDSHIP FADED.

 

Bei VIRGINIA WOOLF wird dasselbe Thema – Kreativität und gender – in ihrem Essay EIN ZIMMER FÜR SICH ALLEIN (RECLAM LEIPZIG, ÜBERSETZUNG VON SUSANNE THURM – warum die DDR nicht, wie meistens bei Lizenzausgaben, die Übersetzung übernommen hat, wäre auch eine interessante Frage, das heißt die Antwort wäre interessant – war die von S. Fischer in ihren Augen zu schlecht? oder in den Augen der Rechte-Inhaber?) behandelt – und darin, wesentlich zutreffender, wie ich finde, mit der Androgynität in Verbindung gebracht. Der androgyne Mensch sei der schöpferische Mensch – schöpferisch ist, wer alle menschlichen Ressourcen/Möglichkeiten in sich zulässt, also als Mann das Feminine und als Frau das Maskuline. (Und dazu noch das Kindliche/Infantile – was vielleicht überhaupt die Voraussetzung für Kreativität ist.)


Und dilettantisch ging ich daran, die Beschaffenheit unserer Seele zu skizzieren: In jedem von uns wohnen zwei Kräfte, eine ist männlich, eine weiblich; und im Denken des Mannes herrscht der Mann über die Frau, und im Denken der Frau herrscht die Frau über den Mann. Ihre normale und angenehmste Daseinsform ist dann erreicht, wenn die beiden harmonisch miteinander leben und geistig zusammenwirken. Auch wenn einer ein Mann ist, muß er den weiblichen Teil seines Denkens wirken lassen, und ebenso muß die Frau mit dem Mann in ihr selbst Umgang haben. Vielleicht meinte Coleridge das, als er sagte, ein großer Geist ist androgyn. Erst wenn es zu dieser Verschmelzung kommt, ist der Geist vollkommen fruchtbar und kann alle seine Fähigkeiten nutzen. (...)

Sicherlich meinte Coleridge, als er sagte, daß ein großer Geist androgyn ist, damit nicht einen Geist, der eine besondere Zuneigung zu Frauen hat, einen Geist, der sich ihrer Sache annimmt oder sich ihrer Darstellung verschreibt. Der androgyne Geist neigt vielleicht sogar weniger dazu, diese Unterschiede zu machen, als der eingeschlechtliche Geist. Er meinte vielleicht, daß der androgyne Geist mitschwingt und durchlässig ist, daß er ungehindert Gefühle mitteilt, daß er von Natur aus schöpferisch, weißglühend und ungeteilt ist. (...)

(...) der allererste Satz, den ich hier schreibe, sagte ich, ging zum Schreibtisch hinüber und nahm das Blatt mit der Überschrift »Frauen und Literatur«, ist, daß es für jeden Schreibenden tödlich ist, an seine Geschlechtszugehörigkeit zu denken. Es ist tödlich, schlicht und einfach nur Mann oder nur Frau zu sein; man muß weib-männlich oder männ-weiblich sein. Es ist tödlich, wenn eine Frau auch nur den geringsten Nachdruck auf irgendeine Unzufriedenheit legt; wenn sie, selbst mit einigem Recht, irgendeine Sache verteidigen will; wenn sie sich auf irgendeine Weise gewollt als Frau äußert. Und das Wort »tödlich« ist nicht nur eine Metapher, denn alles mit diesem bewussten Vorurteil Geschriebene ist zum Tode verurteilt, es hört auf, fruchtbar zu sein. So brillant und eindrucksvoll, wirksam und meisterhaft es für ein paar Tage scheinen mag, bei Einbruch der Nacht muß es verdorren, es kann im Geist der anderen nicht gedeihen. Im Geist muß ein Zusammenwirken von Mann und Frau stattfinden, bevor die Kunst der Schöpfung vollbracht werden kann. Eine Art Hochzeit der Gegensätze muß vollzogen werden. Der Geist als Ganzes muß sich weit öffnen, sollen wir das Gefühl bekommen, daß der Schriftsteller seine Erfahrung in ihrer ganzen Fülle mitteilt.

Wenn wir noch etwa ein Jahrhundert weiterleben – ich spreche von dem gemeinsamen Leben, dem wirklichen Leben und nicht von dem kleinen, getrennten Leben, das wir als Individuen führen – und jede von uns fünfhundert Pfund im Jahr und ein eigenes Zimmer hat; wenn die Freiheit für uns eine Gewohnheit ist und wir den Mut haben, genau das zu schreiben, was wir denken; wenn wir dem gemeinsamen Wohnzimmer ein wenig entfliehen und die Menschen nicht ständig in ihren Beziehungen zueinander sehen, sondern in ihrer Beziehung zur Wirklichkeit, und auch den Himmel und die Bäume als solche ... wenn wir uns der Tatsache stellen, denn es ist eine Tatsache, daß es keinen Arm zum Anklammern gibt, sondern daß wir allein gehen und daß wir zur Welt der Wirklichkeit eine Beziehung haben und nicht nur zur Welt von Mann und Frau; dann wird die Gelegenheit kommen, und die tote Dichterin, Shakespeares Schwester, wird in den Körper schlüpfen, den sie so oft entworfen hat.

 

Wenn wir uns der Tatsache stellen, dass es keinen Arm zum Anklammern gibt ..., das fordert auch SIMONE DE BEAUVOIR, und die Frauen, haben sie es endlich begriffen und leben sie danach? ––– In einem Radio-Interview mit der NBC, an der Columbia University, am 12. November 1934, sagte STEIN an ihre Kritiker gerichtet: »Verständlich zu sein, heißt nicht immer, daß man wirklich verstanden wird. Jeder hat sein eigenes Englisch ... Sie werden schon sehen, daß es verstanden wird. Wenn Sie es mögen, dann verstehen Sie es auch.« Man könnte meinen, das Gegenteil wäre richtig, aber das stimmt nicht. Man kann von einer (sprachlichen) Form so fasziniert sein, dass man von ihr ausgehend den Antrieb verspürt, den Inhalt verstehen zu wollen, und natürlich hilft einem die Faszination dabei, nicht aufzugeben, man will die Nuss knacken und sie auch verspeisen, das heißt man will den Genuss des Verstehens. Ein Buch, das diesen Knackwillen in mir sofort auslöste, ist DIE GEOGRAPHISCHE GESCHICHTE VON AMERIKA ODER DIE BEZIEHUNG ZWISCHEN DER MENSCHLICHEN NATUR UND DEM GEIST DES MENSCHEN (AUS DEM AMERIKANISCHEN ÜBERSETZT VON MARIE-ANNE STIEBEL. SUHRKAMP 1988), natürlich von GERTRUDE STEIN!, das ich am 7. Februar in meiner Lieblingsbuchhandlung, ARTIFICIUM am Hackeschen Markt, nach der Arbeit gekauft habe – Abholung einer Großbestellung. Ein alter SUHRKAMP-Hauptprogramm-Band, wunderschöner, rein typographisch gestalteter Umschlag, Leineneinband, aber kein Lesebändchen; wer weiß, wie viele Exemplare da im Jahr verkauft werden, ich schätze, nicht mehr als eine Handvoll – gleich in der Nach-Hause-S-Bahn habe ich darin gelesen. Es gibt Bücher, die einen, obwohl man müde von der Arbeit kommt, kaum schlägt man sie auf, richtig vergnügt machen, und dieses gehörte dazu, denn das Buch begann mit einem Vorwort von THORNTON WILDER, der gleich auf der ersten Seite die von STEIN getroffene Unterscheidung zwischen der menschlichen Natur und dem Geist des Menschen referierte, und die menschliche Natur, so meint er, meint STEIN, hänge an der Identität, dem Beharren auf sich selbst als Persönlichkeit, und dazu müsse sie die Erinnerung einsetzen und ein Publikum haben – der Geist des Menschen aber: »Der Geist des Menschen jedoch hat keine Identität; in jedem Augenblick, weiß er was er weiß wenn er es weiß.« Da atmet man erst mal schnell aus, und dann ganz langsam wieder ein. STEIN denkt in dem Buch darüber nach, warum es so wenige literarische Meisterwerke gibt. Und warum die Meisterwerke so lange leben und die Fast-Meisterwerke und Nicht-Meisterwerke nicht. Die gewöhnlich gegebenen Antworten befriedigten sie nicht: Universalität, Stil, Psychologie, profunde Kenntnis des menschlichen Herzens. Sie dachte viele Monate über die ILIAS nach und das ALTE TESTAMENT und SHAKESPEARE, über ROBINSON CRUSOE und die Romane von AUSTEN, und die Antwort, die sie fand, war, dass in diesen Werken bestimmte Antworten auf die Fragen nach Identität und Zeit gegeben werden. ––– Mit dem Buchhändler sprach ich auch über die Leipziger Messe, und er fragte mich, ob ich auch da wäre, und ich sagte, ja, aber nur einen Tag, denn das reicht, um allen die Hand zu schütteln und mit dieser und jenem einen Kaffee zu trinken und zu plaudern, aber dann fahre ich wieder zurück, denn die Messe hat nichts damit zu tun, was ich gern mit Büchern mache, nämlich sie anschauen, in ihnen blättern, sie lesen, mit einer Tasse Tee neben mir und Stille um mich herum, im Lesen anzuhalten und aufzusehen, und wenn ich eine Weile darin gelesen habe oder auf etwas gestoßen bin, dass mir einen Stoß versetzt hat – darüber nachzudenken und mir Notizen zu machen und von den Notizen abzuschweifen und Sätze zu bilden und ins Schreiben zu kommen. ––– Und dann bezahlte ich all die Bücher, denn außer GERTRUDE STEIN hatte ich noch gekauft: FRIEDRICH SCHLEIERMACHER: ÜBER DIE RELIGION. REDEN AN DIE GEBILDETEN UNTER IHREN VERÄCHTERN. RECLAM STUTTGART 2007. Dieses Buch zu lesen habe ich schon vor, seit ich mit einem Freund, einem Philosophen, darüber sprach, oder besser: er mir davon ganz begeistert erzählte, denn ich kannte es ja gar nicht, und dann wieder seit letztem Herbst, als ich auf Rügen war, auf dem Mönchgut und in der Granitz, und dort im Jagdschloss die Romantiker-Ausstellung sah, die vorzüglich war und meinen Blick auf die Insel vollkommen veränderte, denn nun sah ich sie mit den Augen von CASPAR DAVID FRIEDRICH, der die Insel bewanderte und sehr viel zeichnete (im Gegensatz zu CARL GUSTAV CARUS, der 1819 in seiner Spur ging, aber von der »Urnatur des Nordens« so sehr ergriffen wurde, dass er das Zeichnen recht bald sein lassen musste:

 

In tiefer Dunkelheit ging ich noch heraus, um bei dem fast phosphorähnlichen Leuchten der Kreidewände, dem Brausen der See in der Tiefe zu horchen, sowie früh ich der erste war, der die Morgensonne auf diesen weißen Klippen und dann unten am Strande begrüßte ... Ich wollte Studien zeichnen, aber kaum hatte ich ein paar Striche gemacht, als ich die Mappe weit wegschleuderte in der Überzeugung, hier sei jeder Strich nur eine Lästerung dieses ganz überschwenglichen Phänomens, und dann nur in höchster Bewegung dem wunderbaren Kampfe des Elements zustarrte ...

 

Ja, da starrte er zu und konnte nicht mehr zeichnen, aber die Wörter, die Wörter gingen ihm nicht aus, sie flogen ihm in seiner Überwältigung auch nicht nur rasend durch den Kopf – und fort, sondern er konnte sie aufs Papier retten, und da ist man doch froh, dass er nicht zeichnete, sondern das hier schrieb (wobei man, jedenfalls was das Horchen in die Tiefe angeht, doch meint, er wäre in einen der Kreidefelsenbesucher von FRIEDRICH hineingekrochen und lauschte mit diesem nun in die Tiefe), denn keine Studie hätte den überwältigenden Eindruck, den die Schönheit und Rauhheit der Insel, das Rauschen des Meeres und das Leuchten der Kreidefelsen in der Sonne auf ihn machten, gewaltiger wiedergeben können, als es ihm in dieser in wenigen Worten hingeworfenen Sprachskizze gelang.)

Aber zurück zur Verwandlung des Blicks, die darin lag, dass, durch die Betrachtung der FRIEDRICHschen Skizzen, wie dieser hier:

 

//BILD//

 

das Farbflächensehen dem Sehen der Konturlinien wich, ich sah nun das Skelett der Landschaft, die Linien, die den Raum gliederten, die horizontalen des Meeres und des Himmels, die leicht gewölbten der hügeligen Landschaft, kontrastiert durch die Vertikalen der Steilküsten, die Lote der Schiffsmasten und Leuchttürme. Im Jagdschlossmuseum gab es einen Katalog, ROMANTIKER AUF RÜGEN, HIDDENSEE UND VILM von REINHARD PIECHOCKI (PUTBUS 1996), der auf wenigen Seiten (64) eine knappe Einführung in das »Wesen der Romantik« gab, und zwar zu ihrem Geschichtsbegriff, ihrem Naturverständnis, ihrer Auffassung von der Religion und ihrem Menschenbild, und dann, immer auf einer Doppelseite, die rügenbewohnenden und rügenreisenden Romantiker vorstellte, ARNDT und KOSEGARTEN und FRIEDRICH und RUNGE und CHAMISSO und CARUS und BLECHEN, dazu Skizzen und Gemälde wiedergab, Porträts der Vorgestellten (darunter ein entzückendes von BLECHEN, der mit zerbeultem Hut im Gras sitzt), so vorzüglich das alles, dass man wieder an die Stillen im Lande (in Putbus!) und ihre intellektuelle Kraft glauben mochte. Und SCHLEIERMACHER war also auch unter den Rügenreisenden, er besuchte in Götemitz Freunde und fand, nach zehnjähriger hoffnungsloser Liebesqual, die Frau, die er heiraten wollte, und fragte sie, die eben, zwanzigjährig und mit dem zweiten Kinde schwanger, ihren ersten Mann verloren hatte, auf einer Bank in Sagard, ob sie ihn wolle. ––– Und weiter kam am 7. Februar hinzu: ROLAND BARTHES: DAS RAUSCHEN DER SPRACHE. KRITISCHE ESSAYS IV. AUS DEM FRANZÖSISCHEN VON DIETER HORNIG. EDITION SUHRKAMP 1695 2006. Ein orangegelber Band, der sofort große Vorfreude aufs Lesen auslöste, da einzutauchen, nachdem die Vorlesungen DIE VORBEREITUNG DES ROMANS (VORLESUNG AM COLLÈGE DE FRANCE 1978–1979 UND 1979–1980, HERAUSGEGEBEN VON ÉRIC MARTY, TEXTERSTELLUNG, ANMERKUNGEN UND VORWORT VON NATHALIE LÉGER, AUS DEM FRANZÖSISCHEN VON HORST BRÜHMANN, EDITION SUHRKAMP 2529 2008) zum Wunderbuch des letzten Jahres wurden – zum grünen Wunderbuch (der Band ist dunkelgrün), mit dem ich meinen Freunden vorlesend, erzählend, zitierend in den Ohren lag, ein Hochsommer- bis Nachweihnachtsbuch, denn so lange las ich darin, das Zuendelesen hinauszögernd, weil ich mich nicht trennen mochte, aber mit dem Verschwinden des Weihnachtsgrüns Anfang Januar war es dann doch ausgelesen, oder besser: einmal durchgelesen, denn nun steht eine Relektüre an, die das Schreiben des eigenen Romans und das Nachdenken übers Schreiben und Komponieren begleiten soll. Aber natürlich ist so eine zweite Lektüre nicht zu vergleichen mit dem Wunder dieses ersten Lesens, bei dem ich ja immerzu vor mich hin lächelte vor Glück. Aber nun habe ich, nach weiteren BARTHES-Ausflügen, den FRAGMENTEN EINER SPRACHE DER LIEBE und den MYTHEN DES ALLTAGS, die, trotz aller Lesebeglückung, nicht an die Vorlesungen heranreichten, ein neues BARTHES-Wunderbuch, gelborange wie der Spätsommer, und wieder kann ich nicht aufhören mit dem Lesen, lese die halbe Nacht durch, obwohl ich todmüde bin, lese den Anfang, den Essay über die Unterschiede des wissenschaftlichen und literarischen Schreibens – und habe erneut den Eindruck, es ist genau das richtige Buch, jetzt, ich bin ganz empfänglich dafür, aufmerksam, vor zehn Jahren hätte ich mir den Magen verdorben daran – oder auch nicht, weil es nicht diese Bedeutung für mich hätte haben können, die es erst durch das eigene Schreiben gewinnt, damals war das Schreiben Wunsch, jetzt ist es Tun, sind mir die Unterschiede zwischen wissenschaftlichem und literarischem Schreiben vertraut, die Tücken, die beides hat, und die Freuden, hinzu kommen in Ansätzen, ersten Versuchen das essayistische und das journalistische Schreiben, bei denen die Probleme wieder woanders liegen – und vom einen zum anderen zu gehen und die Vor- und Nachteile von allem zu reflektieren, bringt mich voran. Aber wenn ich BARTHES lese, nämlich das hier:

 

Die Literatur besitzt alle sekundären Merkmale der Wissenschaft, das heißt alle Attribute, die sie nicht definieren. Ihre Inhalte sind die der Wissenschaft: Es gibt sicherlich keinen einzigen wissenschaftlichen Stoff, der nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt von der Weltliteratur behandelt wurde: Die Welt des Werks ist eine totale Welt, in der jegliches Wissen (das gesellschaftliche, psychologische, historische) Platz hat, so daß die Literatur für uns jene große kosmogonische Einheit besitzt, deren sich die alten Griechen erfreuten, die uns der aufgesplitterte Zustand der Wissenschaften heutzutage jedoch versagt.

 

dann ist mir das aus der eigenen Praxis vertraut, und ich verstehe, warum alles Schreiben, das nicht literarisches Schreiben ist, Nebensache ist, nicht das Eigentliche, weil es immer nur Stückwerk ist, diesen kosmogonischen Anspruch nicht besitzt, das Ganze nicht im Auge hat und nicht haben kann.

 

Die gesamte Literatur ist im Schreibakt enthalten, und nicht mehr in dem des »Denkens«, des »Ausmalens«, des »Erzählens« oder des »Fühlens«. Technisch gesehen und laut der Definition von Jakobson, bezeichnet das »Poetische« (das heißt das Literarische) jenen Typus der Mitteilung, der seine eigene Form zum Gegenstand nimmt, und nicht seine Inhalte. Ethisch gesehen verfolgt die Literatur kraft des bloßen Durchgangs durch die Sprache die Zerrüttung der wesentlichen Begriffe unserer Kultur, und an erster Stelle des Begriffs des »Wirklichen«. Politisch gesehen ist die Literatur dadurch revolutionär, daß sie verkündet und veranschaulicht, daß keine Sprache unschuldig ist, und dadurch, daß sie das praktiziert, was sich als »integrale Sprache« bezeichnen ließe. Die Literatur trägt somit heute als einzige die gesamte Verantwortung für die Sprache; denn die Wissenschaft bedarf zwar der Sprache, ist aber nicht, wie die Literatur, in der Sprache; die eine wird gelehrt, also ausgesprochen und dargelegt; die andere wird eher vollführt (...).

 

Und weiter: »Schreiben allein hat die Chance, die Unaufrichtigkeit aufzuheben, die jeder Sprache, die sich ihrer nicht bewusst ist, anhaftet.« (S. 14) / »das Schreiben will ein totaler Code mitsamt seinen eigenen Zerstörungskräften sein« (S. 15) / »was die Humanwissenschaften, in welchem Bereich auch immer, ob im soziologischen, psychologischen, psychiatrischen, linguistischen usw., heute entdecken, das hat die Literatur immer schon gewusst; der einzige Unterschied liegt darin, daß sie es nicht gesagt, sondern geschrieben hat.« (S. 16 f.) (Und sagt GERTRUDE STEIN, auf ganz und gar ihre Art, in DIE GEOGRAPHISCHE GESCHICHTE VON AMERIKA ... nicht dasselbe:

 

Die Welt wie wir sie sehen schaut so aus.

Man dachte immer die Welt sei da wie wir sie sehen aber dem ist nicht so die Welt ist da wie sie ist die menschliche Natur ist da wie sie ist und der Geist des Menschen. Der Geist des Menschen weiß dies, daß alles da ist wie es ist.

Nur der Geist des Menschen weiß dies und das ist der Grund warum er nicht das ist was jeder sagt sondern das was jeder schreibt ...

 

daher die Auslegekunst, das Entdecken von allem, womit wir uns als Geisteswissenschaftler außerliterarisch beschäftigen in der Literatur/Kunst. Dieses Schreiben des ungewusst Gewussten ist für mich eins der verblüffend-merkwürdigsten Dinge – im Grundes wissen wir alles und können es auch verstehen, aber (noch) nicht sagen. Nur verwandeln – in Literatur, in Kunst. Und ein Zitat noch (aus Das Lesen schreiben), weil es einen so glücklich macht:

 

Ist es Ihnen noch nie passiert, daß Sie beim Lesen eines Buchs nicht aus Desinteresse, sondern, im Gegenteil, aufgrund von Gedanken, Erregungen und Assoziationen in Ihrer Lektüre ständig innehalten? Mit einem Wort, ist es Ihnen nicht passiert, daß Sie aufblickend lesen?

 

Aber ja! Aber oft! Hier zum Beispiel, bei BARTHES, immerzu! Deshalb braucht man ja auch Monate für die Lektüre, weil man sie alle paar Sätze unterbricht und in die Luft schaut und aufspringt und zum Schreibtisch rennt und sich Notizen macht. Das ist sicher keine schlechte Klassifizierung von Büchern – die, die einen aufblicken und nachdenken und herumgehen und schreiben lassen, und die, die man eben liest. Und aus. Und die man also auch ungelesen lassen könnte. – Ach, ich könnte immer so weiter zitieren und zitieren, so auch den ganzen folgenden Abschnitt, Über das Lesen, aber das Buch gibt es ja überall, und es kostet, neu, nur 16 Euro.

 

EXKURS: Warum man etwas liest, und warum jetzt. Bücher, die im richtigen Moment kommen, oder im falschen. Reife. Überreife. Unreife. -> ROLAND BARTHES

 

––– Und am 7. Februar kam gleichfalls dazu, wahres STEIN-Fieber: GERTRUDE STEIN: ERZÄHLEN. VIER VORTRÄGE. EINLEITUNG VON THORNTON WILDER. ÜBERTRAGEN VON ERNST JANDL. BIBLIOTHEK SUHRKAMP 278 1971. »Denken Sie darüber nach und Sie werden sehen daß es Ihnen klar wird.« Das ist also einer der großartigen STEIN-Sätze, so schlagend, wie nur sie sie schreibt. Das Buch vereint vier Vorträge, die STEIN im März 1935 an der Universität von Chicago vor etwa 500 Studenten gehalten hat. Diese Vorträge sind wirkliche Vorträge, weil man sich, auch beim Selberlesen, ganz ihrer Musikalität überlassen kann, die, wie eigentlich immer bei STEIN, auf den Prinzipien eines minimalen Sprachmaterials und der Neuanordnung, Variation und Wiederholung beruht. Und so schraubt sie sich allmählich voran. Das hat einen Sog, und wenn man sich dem überlässt, ohne, wie ROLAND BARTHES in DAS RAUSCHEN DER SPRACHE sagt, »aufblickend [zu] lesen«, und das heißt innezuhalten und über das Gelesene nachzudenken und es weiterzuverfolgen, ehe man zur Lektüre zurückkehrt (oder das Buch auch erst einmal zuklappt und anderes tut), hat man bald das ganze Buch durch, ohne doch auch nur im mindesten sagen zu können, was man da gelesen habe. Es war ein Rausch. Das ist die Gefahr bei GERTRUDE STEIN. Aber auch das Vergnügen. Denn dadurch kann man jedes ihrer Bücher wieder und wieder lesen. Und wird immer Entdeckungen machen. Und das ist es, was sie eigentlich will: die Re-re-relektüre, die sich Zeit nimmt, nicht über die Sätze hinweghuscht, ein Lesen, das eben gerade nicht dem Rausch verfällt, sondern bei jedem Wort verharrt, das auf die Gelenke der Sprache, die Konjunktionen und Füllwörter und Pronomen aufmerksam wird, das zu einem Nachdenken über die Sprache selbst führt. Und um dieses Ziel zu erreichen, muss man manchmal eben auch etwas weglassen (worüber sich die Leser beklagen – aber sind es wirkliche Leser?). »Ein Komma indem es Ihnen weiterhilft Ihnen den Mantel hält und Ihnen die Schuhe anzieht hält Sie davon ab Ihr Leben so aktiv zu leben wie Sie es leben sollten ... Je länger je komplizierter der Satz je größer die Zahl der gleichartigen Wörter die ich eins dem andern folgen ließ, um so mehr je mehr dieser Wörter ich folgen ließ fühlte ich das leidenschaftliche Verlangen sie selbständig für sich selbst sorgen zu lassen und ihnen nicht zu helfen und sie dabei zu schwächen durch das Einschalten eines Kommas ... Ein langer komplizierter Satz sollte sich Ihnen aufzwingen, Sie wissen lassen daß Sie ihn wissen.« Das ist es. ––– Und heute, am 26. Februar, habe ich die Lektüre von LÁSZLÓ F. FÖLDÉNYI: DOSTOJEWSKI LIEST HEGEL IN SIBIRIEN UND BRICHT IN TRÄNEN AUS. AUS DEM UNGARISCHEN VON HANS SKIRECKI. MIT EINEM VORWORT VON ALBERTO MANGUEL. MATTHES & SEITZ 2008 noch einmal begonnen und fortgesetzt (und am 1. März endlich abgeschlossen – die dünnsten Bücher können einen manchmal am längsten beschäftigen), und natürlich, gleich im Vorwort von ALBERTO MANGUEL (den ich gar nicht kenne, muss aber ein großes Tier sein, da er mit NOOTEBOOM korrespondiert und dieser ihm wieder und wieder FÖLDÉNYI ans Lektüreherz legt), kommt dieser auf den genialen Titel zu sprechen, der ja auch mich verführte:

 

Unter den vielen Wegen, die zur Lektüre eines Buchs führen (von denen alle etwas Geheimnisvolles an sich haben) findet sich einer, der über den Titel führt. Wir werden vielleicht nicht sofort von einem Buch angezogen, das sich »La divina comedia« nennt oder »Les contemplations«. Aber nur eine Seele aus Stein kann einem Titel wie »Dostojewski liest in Sibirien Hegel und bricht in Tränen aus« widerstehen.

 

Was ist es, fragt man sich sofort, das DOSTOJEWSKI in Tränen ausbrechen lässt? Er entdeckt bei HEGEL, dass die Geschichte, als deren Opfer er sich in der Verbannung sieht, seine Existenz ignoriert, seine Leiden werden, unbemerkt, weitergehen, sie dienen keinem Zweck im Lauf der Menschheitsgeschichte, sie sind sinnlos. Und noch schlimmer ist: er weiß, er und sein Leiden werden wahrgenommen – man weiß davon auch in Berliner Professorenstuben, aber nicht gesehen. Natürlich ist der Fehler DOSTOJEWSKIs, dass er HEGEL Glauben schenkt, dieser Geschichtsphilosophie, die an ihr Ende gekommen zu sein meint. Nur aus ihr, diesem Konstrukt, fällt er heraus. Dass wir uns noch mit ihm beschäftigen – und durch ihn mit den zahllosen Mitsträflingen, namenlos, aber nicht vergessen –, ist das nicht der Beweis, dass HEGEL Unrecht hatte? Wir heute, in einer Welt, in der jeder mit jedem verbunden sein kann, wenn er will, und oft verbunden ist, über kurze Wege, ohne es zu wissen oder sich bewusst zu machen (denn grundsätzlich wissen wir es ja), wir heute wissen, dass nichts aus der Geschichte fällt, dass alles nachwirkt und zurückkehrt, wenn nicht in dieser Generation, so in der nächsten oder übernächsten. Gerade beginnt die Brutalität der Kolonialeuropäer zurückzuschlagen, in den Vorstädten in Frankreich und Großbritannien und den Niederlanden, kommen die Nachfahren der Ausgeplünderten übers Meer, und sie werden mehr werden und lauter – wenn Europa ihr Leiden, in dem das ihrer Vorfahren noch immer virulent ist, nicht ernst nimmt. Es gibt auf der Erde keinen Ort mehr wie Sibirien, in den man das Leid auslagern kann, alles geschieht unter unseren Augen. Aber die Kritik DOSTOJEWSKIs wendet sich noch gegen etwas anderes, Grundsätzlicheres, darauf legt FÖLDÉNYI seinen Finger: »Er [Dostojewski] erfuhr an der eigenen Haut, dass keine andere Epoche das Leiden so lautstark ablehnte wie die Kultur, die mit der Aufklärung begonnen hatte – mit dem Ergebnis aber, dass sie nicht das Leiden überwand, sondern nur verhüllte, dass sie selbst im Leiden wurzelte.« Denn das Leiden und der Tod sind – wie das Glück – das, was der Mensch nicht beherrscht, dem er ausgeliefert ist, das er allerhöchstens mildern, aber nicht abschaffen kann. HEGEL löst dieses Problem, indem er das Leid zum Zufälligen erklärt, das sich im Allgemeinen verliere. Er macht es, um vernünftig von der Weltgeschichte reden zu können (als ob es die gäbe, gibt es nicht nur Ereignisse, Momente des Geschehens und des Geschehenlassens vor allem?), unsichtbar, nimmt von seiner Bestimmung alles aus, was Leben ist: Tugend, Laster, Talente, Gewalt, Unrecht, Leidenschaften, und spricht nur noch vom Gelingen, Siegen und vom Glück. Die Geschichtsphilosophie, die die christliche Heilsgeschichte beerbt hat, hat keinen Trost mehr für den, der auf der Seite der Verlierer steht und ins Vergessen zu rutschen droht, die Opfer haben keine Stimme. Bei HEGEL jedenfalls. Der damit ein Vorläufer der Erlösungsideologien des 20. Jahrhunderts wurde, die dem Grundsatz folgten: Das Leiden ist aus dem Leben zu entfernen, und wenn es höchstes Leid kostet. – Was mich an dem Buch stört, ist der spürbare Wunsch, zu Altem zurückzukehren – das war aber noch nie die Lösung, sondern immer nur das Deckmäntelchen für neue Repression, es lässt sich ja nichts »besser« wiederholen. Was soll man mit einem Satz (bei FÖLDÉNYI) wie diesem anfangen: »Ein der Vernunft ausgelieferter Gott ist ein Gott nicht der Freiheit, sondern der Politik, der Eroberung und der Kolonialisierung.«? Ich bin mir nicht sicher, was die Alternative sein könnte. Eine Vernunft, die die Unvernunft zulässt? SCHLINGENSIEFs Wunsch nach dem Bekenntnis: Ich habe Angst? Aufhören damit, die dunklen Seiten, das Unbeherrschbare zu leugnen? Ich finde aber, im Gegensatz zu FÖLDÉNYI, der in diesem Büchlein letztlich eine Zivilisationskritik unserer Gegenwart versucht, das geschieht hier und da, und zwar weil sich das Ausgeschlossene, Verdrängte binnen kurzem zurück- und lautstark zu Wort meldet. Mir ist er da zu apodiktisch, ebenso die Vielstimmigkeit ausblendend wie der von ihm kritisierte HEGEL. Dass wir diese Vielstimmigkeit haben und aufeinander hören müssen, ist unsere größte Hoffnung. ––– Das Buch ist jetzt schmuddelig und durchgelesen – wie es sein soll.

 

Weitere Bücher, Lektüren des Februar, die ich nicht mehr schaffe zu besprechen – aber wenigstens seien sie erwähnt: 6. Februaraus dem Antiquariat (gern hätte ich hier das VIRGINIA-WOOLF-Zitat zu Antiquariatsbesuchen angebracht): BORIS VIAN: HEIRATET NICHT: LASST ES SEIN! LOSE LIEDER UND LOCKERE GESCHICHTEN. WAGENBACH 1997. ––– HENRY JAMES: TAGEBUCH EINES SCHRIFTSTELLERS / NOTEBOOKS. DEUTSCH VON ASTRID CLAES. ULLSTEIN 1986. Die Tagebücher wollte ich haben, seit ich vor Jahren irgendwo einen Auszug las, darin die Skizze zu einer Erzählung, die James nie ausgeführt hat, mit einem so grandiosen Plot! ––– PETER HANDKE: DIE LEHRE DER SAINTE-VICTOIRE. SUHRKAMP TB. 1070 1984. ––– MARLEN HAUSHOFER: WIR TÖTEN STELLA UND ANDERE ERZÄHLUNGEN. DTV 11293 MÜNCHEN 1990. ––– Und mit der Post kam (an der Haustür klebte ein riesiger, an mich adressierter Zettel: Beim Bäcker abzuholen!): GERTRUDE STEIN. EIN LEBEN IN BILDERN UND TEXTEN. HERAUSGEGEBEN VON RENATE STENDHAL. ARCHE ZÜRICH 1989. Redaktion: Katharina Raabe! ––– Und dann, gleichfalls am 7. Februar beim Nachhausekommen, in meinem Briefkasten, noch zwei Büchersendungen: SYLVIA BEACH: SHAKESPEARE AND COMPANY. EIN BUCHLADEN IN PARIS. SUHRKAMP TB. 823 1982. Sylvia Beach ist, wie GERTRUDE STEIN, in Baltimore geboren. Ausgerechnet auf den vier Seiten zu GERTRUDE STEIN und ALICE B. TOKLAS ist das erste Blatt verknickt. ––– RICOH GERBL: LEBEN IM LUXUS. ERZÄHLUNGEN. MITTELDEUTSCHER VERLAG HALLE 2009. Der Auszug auf dem Umschlag zum Anfüttern ließ mich erst mal aufseufzen, oh je, wieder so Literaturinstitutsprosa, wie es sie schon in allen Zeitschriften gibt. Aber die Geschichte »Das Sofa« gefiel mir dann – hat einen schönen, abrupten Schluss. ––– 8. Februar: ANDREAS KILB. KINOBLICKE. AUSGEWÄHLTE FILMKRITIKEN. VERLAG FÜR BERLIN-BRANDENBURG BERLIN 2008. Ein verspätetes Weihnachtsgeschenk. ––– 12. Februar: ALBAN LEFRANC: ANGRIFFE. FASSBINDER. VESPER. NICO. DREI ROMANE. AUS DEM FRANZÖSISCHEN VON KATJA ROLOFF. BLUMENBAR 2008. Ein Buch, das sofort beginnt. Eine klare, zupackende, alles andere als vorsichtige (aber nicht unvorsichtige!) Sprache. Gattungsbestimmung schwierig. Drei Romane? Aber was sind das für Romane? Fiktion, Dokumentation, Adoption, Annexation. Eine Ein- und Austreibung. Der erste über Fassbinder, RWF als Automarke. Die Franzosen schreiben die Fassbinder-Romane – und wir die Pasolini-Texte. ––– 20. Februar: »GELIEBTES WESEN ...« BRIEFE VON VITA SACKVILLE-WEST AN VIRGINIA WOOLF. HERAUSGEGEBEN VON LOUISE DESALVO UND MITCHELL A. LEASKA. MIT EINER EINFÜHRUNG VON MITCHELL A. LEASKA. AUS DEM ENGLISCHEN VON SIBYLL UND DIRK VANDERBEKE. S. FISCHER 1995. Auf Seite 76: »Trinker halten sich gegenseitig für amüsant, aber das tun sie nur, weil sie beide betrunken sind. Es ist komisch, daß die beiden Dinge, auf die die meisten Männer wirklich stolz sind, Dinge sind, die jeder Mann kann, nämlich sich zu betrinken und Vater von Söhnen zu sein.«

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