Lyrik

moabit, mon habit


moabit, mon habit
Gedichte, 2008

 


Im Sommer 2010 zog ich aus meiner alten kleinen Wohnung in Ostberlin aus und kam nach Moabit. Moabit ist eine Insel, und war damals noch nahezu unentdeckt. Kein Mensch kam hierher, um etwas zu erleben. Es gab weder Hipster noch Rennräder noch vegane Restaurants. Weder Touristenbusse noch einen Babyboom. Ich wohnte in einem unsanierten Haus, ganz oben, unterm Dach, in einer riesigen Wohnung zu einer unfassbar niedrigen Miete, die ich wegen zahlreicher Mängel noch weiter drücken konnte. Meine Hausgenossen waren Studenten und Lebenskünstler, mit Leergutsammlungen vor der Tür und Zeit und Lebensfreude. Im Hof gab es eine Teppichklopfstange, die als Fahrradständer diente, niemand hatte Pflanzen auf dem Balkon oder dachte gar an urban gardening, die Post wurde einem durch den Schlitz in der Wohnungstür geworfen, dickere Formate auf die Fußmatte davor gelegt. Was für ein Luxus! Nie musste ich wegen meiner Post die vielen Treppen hinunter (oft umsonst), nie zur Postfiliale, weil die Büchersendungen mal wieder nicht in den Kasten gepasst hatten – ich brauchte nur die Tür zu öffnen. Und der Briefträger hatte immer Zeit für ein Schwätzchen und bekam zu Weihnachten ein Dankeschön fürs Treppensteigen.

Vorbei. Mit der Sanierung und anschließenden Neuvermietung für das Dreifache hat das Haus seine Aura verloren. Die bunten Scheiben im Treppenhaus, die Teppichklopfstange, die Briefkastenlosigkeit, seine Randlage. Moabit liegt jetzt mitten im Zentrum, der Verkehr tobt durch die Straßen, und der Hundekot wird eingesammelt.

Aber noch gibt es unbebaute Brachen, Flächen, deren Nutzung nicht definiert ist, über die nachts die Füchse streifen und tagsüber ich mit meinem Notizbuch und meiner Kamera. Flächen, auf denen noch alles möglich ist, wie damals in der Wohnung fast ohne Möbel, mit einer Matratze auf dem Boden und den Bücherstapeln die Wände hinauf.

In kurzen Prosastücken, Gedichten und Fotos wird hier von diesen unbeschriebenen Flächen, der Terra inkognita, die in- wie auswendig liegt, erzählt. MOABIT _ MON HABIT ist nicht nur ein lyrisches Porträt Moabits, sondern auch das eines seelischen Zustands in einer bereits zur Vergangenheit gewordenen Zeit.

 

zeichen _ imaginäres japan


zeichen _ imaginäres japan
Gedichte, 2010–2012
 

 


ich nehme an eine Verwandtschaft gewisser Länder, Landschaften, Orte: Japan, Venedig, Florenz, Berlin _ ziehe die Summe ihrer mich angehenden (fiktiven) Gemeinsamkeiten _ und nenne diese: Japan _ Japan ist also kein wirkliches Land, sondern der Name für ein System _ an dessen Eigenschaften mir liegt _ und das die Sehnsucht nach einer Differenz verrät, einer Gegenwelt, die _ still, fragmentarisch, weiß, gerahmt ist
 

Wehtanz im Sechsachteltakt


Veröffentlicht in oda  Ort der Augen Nr. 4, 2010

 


Tiergarten-(Großer Stern)
 

Weiche weißgraugrüne Eichblattunterseiten wie
Wehtänze im Sechsachteltakt Großer Walzer vorm
Orientokzidentreichmirdiehandmeinbauchhände
hochmesserraustamburinhandynotruf ja Gott ist
mein Zeuge einigen wir uns auf Hammelfleisch
spieße gegrillt wenn die Grillen zirpen am Abend
Kindergeschrei und salam aleikum grüßt schöner
zurück im Dar al-Harb der Nachbar wie im Frieden
von Eisenburg der kein Frieden war nur ein Still
leben von Waffen zweischneidiger Diplomaten
geschenke für die Rüstkammern der Ungläubig
glaubenden die nackt im Gras die eigene Haut
rösten sowjetrot jeder sein eigener Selbstmord
attentäter mit Strandlaken und Kühltasche unter
den Augen der Nike vom großen Sternenbanner
barfüßige Melek Heil dir werden wir Futur II ge
zeichnet sein Ölschiefer im goldenen Siegerkranzler
kostüm unter den sandigen Sedimenten der Spree

 

Jahrbuch der Lyrik 2011


Veröffentlicht in Jahrbuch der Lyrik, DVA 2011
 

 


K.grad
 

man möchte den Kindern sagen
ihr müsst vor nichts Angst haben
geht nackt
gründet eure eigene Republik
schlaft in weichen Betten
und träumt
träumt
 

Technische Beschleunigung – ästhetische Verlangsamung?


Veröffentlicht in Technische Beschleunigung – Ästhetische Verlangsamung?

Mobile Inszenierung in Literatur, Film, Musik, Alltag und Politik

Hg. von Jan Röhnert

Böhlau 2015

 

 


*** (-trompeter)

der Trompeter (im Haus gegenüber)

als hätte sich die Welt gedreht
Frühling Sommer Herbst
im Gelenk
schiene die Sonne nun von der anderen Seite
an Spinnweben aufgehängt



2010-09-22

 

Junge Lyrik der Gegenwart


Veröffentlicht in
FAS Nr. 17
28. April 2013
Feuilleton Seite 44

 

Schönheit und Gebrechen
Wie dichten deutsche Dichter heute?
Versuch einer Bestandsaufnahme der letzten zehn Jahre.
Sie leuchteten


Die Lyrik, wie jede Kunstgattung, macht immer wieder glanzlose Zeiten durch. Die letzten zehn Jahre aber haben geleuchtet. Eine neue Generation trat in Erscheinung: in Zeitschriften, die ihr, wie die inzwischen legendäre »Bellatriste 17«, ganze Sondernummern widmeten; in neu gegründeten Verlagen wie Luxbooks, J. Frank, Urs Engelers roughbooks und dem berühmtesten, Kookbooks, der nicht nur Lyrik verlegt, sondern die »Poesie als Lebensform« versteht. In Anthologien wie dem schon 2003 von Jan Wagner und Björn Kuhligk herausgegebenen Band »Lyrik von jetzt«, der einen ersten Überblick über die jüngere deutsche Gegenwartslyrik erlaubte.
 

Jüngere deutschsprachige Gegenwartslyrik


Veröffentlicht auf
fixpoetry
Mai 2013

 


Die Lyrik, wie jede Kunstgattung, macht immer wieder dürre Zeiten durch. Die letzten zehn Jahre aber haben geleuchtet. So sehr, dass es selbst dem lyrikfernen und immer lyrikferneren Feuilleton auffiel und es sich hin und wieder zu panegyrischen Sonderseiten hinreißen ließ; die »Zeit« druckte gar ein Jahr lang Gedichte, die sich auf mehr oder weniger aktuelle politische Ereignisse und Vorgänge bezogen. Den Versuch, die ästhetische Qualität der entstandenen Texte zu bestimmen, unternahm sie jedoch nicht.

 

 

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