Quallen
Jedem, der im Sommer ans Meer fährt, sind sie vertraut: Quallen. Beim Schwimmen wischen sie an Armen und Beinen entlang, und von Strömung und Wellen werden sie an Land gespült, wo sie dann im Sand liegen und langsam in der Sonne verdunsten. Sie wirken meist einfach, etwas langweilig. Aber das liegt nur daran, dass sie da vor uns im Sand nicht in ihrem Element sind und dass wir uns fast nie die wirklich spannenden Fragen stellen: Woher kommen sie, wie leben sie, wie vermehren sie sich, wie schützen sie sich davor, gefressen zu werden?
All diesen Dingen geht Michael Stavarič in seinem Buch »Faszination Qualle – Geheimnisvolle Schönheiten« in einer wunderbar unterhaltsamen Erzählung nach, in der er Leser und Leserin mit Fragen, Rätselaufgaben, Suchbildern auf eine gemeinsam unternommene Forschungsreise mitnimmt. Obwohl Quallen eine der ältesten Spezies überhaupt sind – es gibt sie schon seit etwa 650 Millionen Jahren –, weiß man erst wenig über sie, und sehr, sehr viele Arten (vermutet wird, es könnten bis zu 300.000 sein) sind noch völlig unbekannt. Quallen bestehen zu mindestens 95 Prozent aus Wasser, sie haben weder Herz, noch Gehirn, Knochen oder Lunge, manche Wissenschaftler*innen bezeichnen sie daher auch als »organisiertes Wasser«. Einige von ihnen, wie die Portugiesische Galeere, sind gar kein Einzelwesen, sondern ein Staat, der aus Tausenden Einzeltieren besteht, von denen jedes eine spezielle Funktion übernimmt, wie wir es an Land ganz ähnlich von Ameisen, Bienen oder Termiten kennen. Allerdings sind diese Einzelwesen fest miteinander verwachsen – wie die Zellen unseres eigenen Körpers – , es ist ein schwimmender, tauchender Staat, der sich zu Teilen klonend erhält.
Je mehr man beim Lesen erfährt, desto mehr Fragen hat man (wie es bei guten Büchern immer der Fall ist), zum Beispiel die, ob die Quallenforschung irgendwann eine Antwort darauf findet, wie das sich selbst organisierende Leben entstanden ist. Der gezeichnete Unterwasserkosmos von Michèle Ganser, tiefschwarz und übersät mit winzigen Sternpünktchen, erinnert an alte Jules-Verne-Ausgaben und damit an eine Zeit, als der Raum des Nichtwissens sich noch einmal auf zuvor unvorstellbare Weise weitete – und veranschaulicht die in den Bann ziehende Faszination, die nicht nur von Quallen ausgeht, sondern von allem Leben, das sich auf unserer Erde findet, sobald man sich beobachtend, fragend darüberbeugt.
Michael Stavarič / Michèle Ganser: »Faszination Qualle – Geheimnisvolle Schönheiten«. Leykam, 144 Seiten, 26,50 Euro, ab 8 Jahren
FAS Nr. 15, 16. April 2023, Feuilleton Seite 42