Frau Hartz, was ist bei Ihnen los, bevor es mit dem Schreiben losgeht? Steht Ihnen die Komposition klar vor Augen, oder verfahren Sie nach dem Prinzip »Der Appetit kommt beim Essen«?
B.H.: Am Anfang stehen eine Farbe und eine Stimmung. Daraus entwickelt sich der Sound der Geschichte. Zunächst sind es nur ein paar Sätze, eine Figurenkonstellation, hinzu kommen dann Schauplätze, eine Erzählchronologie, eine Form schält sich allmählich heraus, das Hauptthema oder die Themen des Buchs werden deutlicher. Das alles entwickelt sich im Schreibprozess ständig weiter, die Bezüge werden stetig komplexer, die Figuren bekommen Gestalt, Innenleben, ein Herkommen, einen Charakter, haben ihre Art zu sprechen, ihre Sichtweisen und Themen. Irgendwann ist die Eigendynamik der Setzungen so groß, dass die anfänglich fast totale Offenheit sich in die Eigenlogik des Texts verwandelt hat, der dann aufmerksam zu folgen ist.
Um diese Aufmerksamkeit aufrecht zu erhalten, verrät Brigitte Kronauer »kleine Dopes« zwischen den Schreibintervallen, wozu bei ihr eine Genusszigarette, ein starker Kaffee oder ein legerer Spaziergang gehören. Gibt es für Sie ähnliche Stimulanzien?
B.H.: Das kann einfach alles sein. Ich lebe in einem permanenten Zustand der Kreativität. Nicht nur mein Kopf, mein ganzer Körper denkt immerzu ans Schreiben, übers Schreiben nach – egal, was ich tue, ob ich lese, spazieren gehe oder die Wäsche aufhänge. Allerdings gibt es Phasen, in denen diese Arbeit besonders beglückend ist, da sie in eine Form mündet: in eine Erzählung, ein Gedicht oder einen Roman. Um das Schreibfeuer nicht ausgehen zu lassen, helfen dann kleine Rituale, vor allem aber ein regelmäßiger Tagesablauf, Wachheit und permanentes Notieren.
Wie bringen Sie Ihre Texte aufs Papier? Tippen Sie direkt in den Computer oder tut es immer noch der Bleistift, zu dem sich Hans Magnus Enzensberger ja in dem Gedicht mit dem vielsagenden Titel »Altes Medium« als seine persönliche »hardware« bekennt?
B.H.: Am Anfang schreibe ich viel auf Papier. Dialogfetzen, Zitate, Lektüren, Skizzen zu den Figuren, all das halte ich zunächst auf Schmierpapier fest. Mein Denken ist mit Stiften und Papier, meine Handschrift viel freier, unkontrollierter als am Computer. Diese Notate kommen dann zum einen in ein extra für das Schreibvorhaben angelegtes Heft, wo ich sie weiterbearbeiten, markieren und sortieren kann, wo ich Fotos und Zeitungsartikel und Briefe einklebe; parallel dazu tippe ich sie ab, um stets ein sauberes Manuskript zu haben, das ich jederzeit kopieren und verändern kann.
Erzählanfänge oder -schlüsse beschäftigen Leser oft über Jahre. Was braucht für Sie eigentlich ein guter Erzählanfang und ein guter Erzählschluss?
B.H.: Der Anfang einer Erzählung braucht eine Setzung, die einen inhaltlich wie sprachlich in die Geschichte zieht. Es kann mit einem Knall beginnen oder auch ganz leise anheben, nur muss sich sofort ein Sog aufbauen. Je weniger erklärt wird, desto besser. Die Geschichte muss ihre eigene Logik entwickeln. Auch ihre eigene sprachliche, formale Logik. Der Schluss ist das Schwerste. Er soll keine Lösung, kein Ergebnis, keine Pointe der Geschichte sein. Eine Möglichkeit ist, den letzten Absatz, nachdem man ihn geschrieben hat, wieder zu streichen. So kann das Buch atmen, weiteratmen.
Was macht erzähltechnisch Ihre Texte aus?
B.H.: Eine der faszinierendsten Sachen beim Schreiben ist für mich die Möglichkeit, in einem Satz alle möglichen Zeiten, Figuren, Figurenrede, Gedanken, Erzählerstandpunkt, enzyklopädisches Wissen, Erinnerungen, Träume … zusammenfließen zu lassen. Auf einer Buchseite können Sie durch Raum und Zeit gleiten, eben waren Sie noch in einem Zimmer, plötzlich am Südpol, auf dem Mond oder im Kopf eines Mörders, eines Kindes, eines Vogels. Man muss sich beim Schreiben immer wieder sagen, dass alles möglich ist, alles erlaubt. Die Regeln gibt man sich selbst vor, und es sind bei jedem Buch andere. Man versucht beim Schreiben etwas zu erfahren: über sich, die anderen, die Welt, die Sprache, die Literatur. Jeder Text braucht seine eigene Methode und Technik, folgt neugierig einer Frage.
Für welche Literaturverfilmung würden Sie die Leute ins Kino schicken?
B.H.: Ich stehe Literaturverfilmungen kritisch gegenüber, die meisten von ihnen sind bloße Kostümfilme, auf den Plot aus und verdammt zu Wahrnehmungsklischees, visuelles Varieté. Für mich gehört die menschliche Fähigkeit, kleine schwarze lautlose Zeichen in unseren Köpfen in sprechende Menschen, Geräusche, Düfte, ganze Landschaften, phantastische Welten zu verwandeln, zu den größten Wundern überhaupt. Ein Film ist im Vergleich banal. Wirklich große Literatur wie Melvilles »Moby Dick« oder Prousts »Recherche« lässt sich nicht verfilmen. Aber, um mir selbst zu widersprechen: Es gibt eine wunderbare, ganz ihrer eigenen Logik folgende »Verfilmung« von Robert Walsers »Jakob von Gunten«: »Institut Benjamenta« der Brüder Stephen und Timothy Quay aus dem Jahr 1995.
In den Gesprächen, die wir miteinander geführt haben, kamen wir auch auf Christa Wolf. Die Frage »Wer bin ich wirklich und was hindert mich daran, ich selbst zu sein?« durchzieht beinahe alle ihrer Werke. Hatte sie da wohl die Gleichberechtigung oder eher anderes im Sinn?
B.H.: Ich glaube, Christa Wolf geht es nicht um Gleichberechtigung. Sie fragt nach ihrem Frausein – und zwar unabhängig von den Projektionen der Männer, den Verbiegungen, Erwartungen durch Erziehung und Patriarchat. Sie fragt, was für Menschen könnten Frauen sein, wenn sie diesen Ballast abwürfen, sich wirklich frei machten? Wozu wären sie dann fähig? Das ist auch meine Frage und eine viel größere Frage als die danach, wer den Abwasch macht. Plötzlich wachsen einem Flügel.
Apropos »wachsende Flügel«: Am Ende von Wolfgang Hildesheimers »Warum ich mich in eine Nachtigall verwandelt habe« macht sich der Ich-Erzähler fliegend auf und davon. »Verwandlung« ist ja nicht zuletzt durch Kafka ein großes Motiv in der Literatur. Ereignen sich auch in Ihrem Werk solch »außergewöhnliche« Dinge?
B.H.: Ich liebe am Schreiben, dass ich mich und alles, was mir begegnet (ist), in etwas verwandeln kann, das über die Verwandlung einer Figur in einen Vogel oder in ein Insekt hinausgeht: nämlich in einen Text, indem ich mir als einer oder einem anderen begegne. (Letztlich haben das auch Kafka und Hildesheimer getan, klar, in der Konkretation einer Stellvertreterfigur). Dass ich dort Seiten ausleben kann, Dinge aussprechen, zeigen kann, in einer Genauigkeit und Intensität, wie es im Alltagsleben niemals möglich ist.
Und noch ein Fantasiewerk: Der Mann, der seinen Schatten dem Teufel abtrat, Peter Schlemihl. Großes Rätselraten, was es mit dem Schatten auf sich hat. Sie selbst greifen diesen Stoff für ein Theaterstück auf. Warum kann Schlemihl die Leserschaft mehr als 200 Jahre nach Chamisso immer noch packen?
B.H.: Weil der Schatten, unser Schatten uns fasziniert. Und weil wir, zum Glück, immer noch nicht wissen, was Chamisso mit ihm gemeint hat.
Und zum Abschluss in Anlehnung an die klassische philosophische Glücksfrage: Macht Schreiben glücklich?
B.H.: Nicht-schreiben-Können ist jedenfalls das größte Unglück …