Text der Lesung in Goßfelden

07.05.2023

Text der Lesung in Goßfelden»Writing in Nature« oder Ein Roman für die »Letzte Generation«


0_Kurze Vorrede

Von mir dürfen Sie keine Erzählung erwarten. Nicht in dem Sinne, wie Sie das vielleicht aus Netflix-Serien oder Märchen kennen. Es ist eher eine Gedankenführung.

Von jeher hat mich interessiert die Verbindung unterschiedlicher Gattungen, von Erzählung, Lyrik und Essay. Ein romantisches Vorhaben. Bekannt auch aus dem Alten und Neuen Testament. Eine Erzählung, die viele Erzähler:innen kennt, die sich wiederholt, widerspricht, variiert, die sich auflöst in Parabeln, Lieder, Gedichte, Weissagungen, Chronik, Bericht. Ein Speicher menschlicher Wünsche, Träume, Hoffnungen, Erfahrungen.

 

1_Tägliche Übung

Gehe zur Lahn. Suche nach einem Stein. Groß oder klein. Hell oder dunkel. Ein Stein, der gut in der Hand liegt, der dich anzieht, der dir gefällt. Nimm ihn mit nach Haus. Leg ihn irgendwohin, wo du täglich vorbeikommst, hantierst. Aufs Fensterbrett oder den Schuhschrank, neben den Kühlschrank oder die Zahnbürste. Versuche jeden Tag für ein paar Minuten, ihn wirklich anzusehen. Nicht als Dekoration, sondern genau, mit Aufmerksamkeit, in jedem Detail. Nimm ihn in die Hand, spüre Rauhheit oder Glätte, Kühle oder Wärme. Denke an seine Entstehung, seine lange Geschichte.

 

2_Der Fluss

Ich sitze an der Lahn. Der Fluss erklärt nicht, er fließt. Er weiß nicht, dass er fließt, er fließt. Unaufhörlich. Mal kommt mehr, mal weniger Wasser. Im Sommer sucht man ihn zwischen den Steinen. Der Fluss ist nurmehr ein Rinnsal, aber er fließt. Wird wieder fließen.

 

3_Sich etwas vorstellen und es tun (wollen)

Schon mein dreijähriger Sohn zerknüllte wütend das Papier, wenn auf ihm nicht das erschien, was er malen wollte, sich zu malen vorstellte.
Er fing neu an. Bis heute fängt er neu an. Mit jedem Bild, das er malt, fängt er neu an. Er ist kein Fluss, der einfach dem Gefälle folgt und fließt. Er hat eine Vorstellung, wie seine Farben fließen sollen und wohin. Manchmal eben auch bergauf. Und wenn er dabei bleibt und nicht vergisst, wie er gestern und vorgestern gemalt hat, fließt der Fluss eines Tages auf seinem Blatt vielleicht wirklich bergauf.

 

4_Die Richtung, der Sinn

Was der Fluss nicht hat und auch mein Kind noch nicht hat, ist das Wozu. Das Wozu kommt später, am Ende der Kindheit. Dann wird es wirklich schwierig. Manchmal macht das Wozu, bei unverändertem Wollen, das Tun sogar unmöglich. Dann gibt es im Fließen, im Fluss einen unguten Stau. Es kann sein, dass der Fluss dann für immer versiegt.

 

5_Mein tägliches Tun

Auch ich fange jeden Tag neu an. Wenn auch nicht immer von vorn. Denn ich werde, hoffe es jedenfalls, besser. Besser in dem Sinne, dass ich mich immer mehr dem nähere, was mir vorschwebt und nur so schwer wirklich deutlich zu sehen, zu ergreifen und zu fixieren ist. Und dass ich weiß, mit welchem Handwerkszeug ich mich ausstatten, zu welchen Techniken ich greifen muss, um mein mir halb deutlich, halb undeutlich vorschwebendes Ziel zu erreichen. Und mich dabei doch überraschen zu lassen. Handwerkszeug und Techniken sind dabei nichts Starres, Fertiges, sie verändern sich, reduzieren sich, entfalten sich, richten sich an meinem Wollen aus, richten mein Wollen aus.

 

6_Beginnen

Auch mit einem neuen Buch beginne ich nicht ganz am Anfang, an der Quelle. Auch das neue Buch folgt aus meinen gesammelten Erfahrungen, aus all dem, was ich schon geschrieben habe. Trotzdem habe ich immer, so am Beginn, das Gefühl, ich betrete einen Raum, meine Schreiblandschaft, zum ersten Mal. Ich setze den ersten Schritt, schreibe den ersten Satz. Ich weiß: Nie wieder werde ich meine Füße so ins grenzenlos scheinende, dennoch begrenzte Nichts, das unsichtbare Fülle und Möglichkeit ist, setzen können. So gehen. Aufregung und Angst und Genuss sind ununterscheidbar. Droge der Kunst.

 

7_Der Zweifel

Habe ich gesagt (geschrieben), was ich sagen (schreiben) wollte? Sage (schreibe) ich jetzt hier, was ich sagen, Ihnen sagen (schreiben) möchte? Es ist ungeheuer schwer, auszudrücken, in Worten, was in einem schwebt, sich formt, als ginge man auf Wolken, die sich immerfort verändern, die einen nur tragen, wenn man keinen Augenblick daran denkt, dass sie einen eigentlich nicht tragen können.

 

8_Die Pause

Aber auch ein Haus bauen, Kinder großziehen, eine Schulklasse unterrichten oder ein Feuer löschen ist schwer. Schlimm ist, wenn man nichts mehr dabei fühlt. Wenn man nur noch funktioniert. Das unterscheidet vielleicht das Schreiben (die Kunst) von jeder anderen Tätigkeit: Wenn man nichts mehr dabei fühlt, ist sie unmöglich. Deshalb sollte man, sobald man nicht mehr schwebend auf Wolken geht, eine Pause einlegen. Um seine Kunst nicht zu töten.

 

9_Writing in Nature

Für die Pause zur Erholung ist wunderbar eine Natur drum herum. Um den Schreibtisch drum herum, die Füße drum herum, und unter den Füßen, den gehenden, die dem erschöpften Geist durch das Gehen das Sehen, Empfinden, Genießen wiederschenken. Aus dem bloßen Trotten nach dem verrenkten Sitzen am Tisch wird nach und nach ein sinnlicher, wahrnehmender Gang, ein Strecken und Lockern des Geistes mit dem Rücken, dem Schlenkern der Arme, ein Recken, Aushecken neuer Gedanken, scheinbar wie von selbst.

Wie man mit den Augen sortiert, sortiert man im Kopf, denn die Arbeit geht, auch so im Gehen, immer weiter. Sie ist wieder, ungesteuert, im Fluss. Ideen, die nichts voneinander wussten, treffen sich, verschwistern sich. Manche, an die man sich klammerte, wird lachend und ohne Reue in die Lahn geworfen, treibt mit Stöcken und Blättern und den Sand am Grund Richtung Marburg. Manches, was steinschwer drückte, löst sich wie Wolkendunst über den fernen Bergen in Himmelsbläue auf. Der Weg ist nicht länger ein Irrweg durch Gestrüpp, ein Mischmasch verworrener Eindrücke, er sortiert sich, wird klar und eben und federnd und beglückend schön, ist erkennbar in jeder Kleinigkeit, entfaltet sich und duftet. Er lässt sich nun wieder gut gehen. Führt mich allmählich, fast unmerklich und doch gelenkt, sicher zurück zu meiner zu bauenden Sache. Aus der Vorstellung des glückenden, beglückenden Schreibens zurück ins Schreiben.

 

10_Konsum

Habe ich die Natur für mein Schreiben benutzt? Natürlich! Die Amsel sucht Zweige und Ästlein, um Nester zu bauen, der Fuchs gräbt eine Höhle, der Specht meißelt sich ein Wohnloch in den Stamm. So auch ich! Für meine Kunst nehme ich, was ich kriegen kann und was sich als brauchbar erweist. Die Natur ist großzügig wie immer, nimmt nicht übel, dass man, was dann doch nicht passt, wieder fallen lässt. Die Umwelt mache ich mir so zu einer mir gehorchenden Form. Mehr, so will mir scheinen, als Amsel, Fuchs und Specht.

 

11_Nature Writing

Aber hier in Goßfelden, ist es noch mehr. Gehe ich nicht nur, eine Pause brauchend, durch die Natur – die Natur ist bei allem immer Thema, Gegenstand meiner zu schreibenden Sache, meines Romans.
Ich beschreibe die Natur nicht nur, entlehne ihr nicht nur Metaphern, sie ist nicht Dekoration, Hintergrund für Stimmungen und Gefühle, Passionsverstärker, wie wir das aus der Musik, aus Romanen und Filmen kennen, sondern das erste Mal, für mich, ist sie das eigentliche Thema, der eigentliche Gegenstand: mein Verhältnis zu ihr wie das der Menschen, der Menschheit ist das Fundament meines Romans. Das bedeutet, es geht hier nicht nur um Writing in Nature, sondern um Writing in Nature about Nature in Reflecting Writing about Nature.
Meine Aufgabe besteht also nicht nur darin, pars pro toto, die Meise gut zu beschreiben, sondern mich, Sie, uns alle in die Lage zu versetzen, den Blick zu öffnen, um nicht nur die wirkliche Meise besser, genauer zu sehen, sondern uns und die Meise, unser wahres Verhältnis zu ihr.

 

12_Posthumanes Nature Writing

Im Roman stelle ich mir vor: eine Natur nach dem Menschen. Eine posthumane Natur. Ich versuche einen – ich sage es gleich: unmöglichen! – Standpunkt einzunehmen: den eines posthumanen Erzählers.
Denn ja, in der Landschaft herumgehend und am Schreibtisch sitzend, denke ich darüber nach, wie es sein wird, wenn kein Mensch mehr in der Landschaft, die dann keine Landschaft mehr ist, sondern im Übergang zu einer noch nie gewesenen, neuen, von uns nicht mehr beschriebenen und beschreibbaren Wildnis, herumgehen wird. Ich nehme gewissermaßen die zweite Hälfte der Erdgeschichte, die kommenden 4,5 Milliarden Jahre in den Blick, die geologischen Zeitalter nach uns, die nicht mehr benannt werden werden. Der Punkt meines Erzählens ist der Ausblick vom hauchdünnen Grat menschlicher Zivilisation in Vergangenheit und Zukunft von Erdgeschichte und Kosmos im Futur II.

 

13_Science-Fiction ohne Science: Ein Roman der Letzten Generation

Das ist Science-Fiction ohne Science mit einer – vom Menschen aus gesehen – postapokalyptische Szenerie. Von der Anhöhe des Futur II – Wir werden gewesen sein – erlebe ich die Apokalypse, in der wir bereits leben, als genussvolle Erzählung, da der Schrecken hinter mir/der Erzählerin liegt, sich die Welt/Natur ohne den Menschen neu ausstreckt und neue Vielfalt gewinnt.
Es ist gewissermaßen ein Roman der Letzten Generation, der, in einer Spiegelung oder Umkehrung unserer Gegenwart, nichts anderes ausdrückt als das Paradox, in dem wir seit Beginn der Moderne vor etwa 250 Jahren leben: in der zum Fetisch erhobenen Verleugnung der Tatsachen. Sie zeigt sich darin, dass wir etwas sagen (wissen), es aber nicht ernst nehmen (nicht danach handeln). Im Wissen um die Fakten, leugnen wir die Fakten, um weiterzumachen wie bisher.

 

14_Jenseits der Hoffnung

Ich schreibe den Roman nicht im Zustand des Zorns, der Verzweiflung, der Resignation. Ich bin jenseits davon. Ich fürchte den Schmerz, aber nicht das Ende. Ich erfreue mich an der Schönheit. Sie ist unvergänglich.

Jenseits der Hoffnung verlässt einen die Verzweiflung und setzt Entspannung ein.


der kleinste Kieselstein ist ein dauerhaftes Bindeglied zu einem dynamischen Kosmos


Wenn wir dessen gewiss sind, kann uns nichts geschehen.

 

Geschrieben für »Ein Tag für die Literatur« mit hr2 Kultur am 7. Mai 2023 in dwr Pfarrkirche in Lahntal-Goßfelden

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