Lektüre

04.01.2024

Lektüre4. Januar

Mehr und mehr spürte ich insgeheim ein Verlangen nach allem, was unsere eigene Umgebung nicht bieten konnte: Weite, Wildheit, Berge, Wälder ... Ich denke, es ging mir dabei besonders um Waldgebiete, »echte« Bäume. Abgesehen von ein oder zwei Ausnahmen [...] habe ich flaches und baumloses Land immer verabscheut. Dort scheint mir einzig die Zeit gewissermaßen emporzuragen [...]
 

[...] zwei junge Waldkäuze, die, frisch aus dem Nest gehüpft, wie ein Paar schlecht gestrickter Socken für den Nikolaus auf einem Platanenzweig saßen und auf diesen Eindringling, mich, in ihren Garten hinunter äugten [...]
 

Aber ich muss gestehen, meine eigene Liebe gilt weitaus mehr den Bäumen im Plural, genauer gesagt den komplexen ureigenen Landschaften, die sie formen, wenn sie sich selbst überlassen bleiben.
 

Indem man den Dingen einen Namen gibt, kategorisiert man sie. Es verleitet dazu, sie zu diesem Zweck zu sammeln, sie zu besitzen [...] Es gibt ein ständiges Bedürfnis oder einen ständigen Zwang, neue Objekte und Namen zu suchen – im Zusammenhang mit der Natur also neue Spezies und Erkenntnisse. Alltägliches verstummt vor lauter Vertrautheit; ist es erst als solches bekannt, ist es bald vergessen.
 

Gewöhnliche Erfahrung ist in der Tat von jeder wachen Sekunde zur nächsten in hohem Maße synthetisch (im Sinne von zusammengesetzt und konstruiert) und besitzt eine so große Komplexität von Strängen, Erinnerungen an Vergangenes und gegenwärtigen Wahrnehmungen, von Zeiten und Orten sowie persönlicher und gemeinsamer Geschichte, dass es selbst mit den entsprechenden Fähigkeiten der Wissenschaft hoffnungslos ist, sie zu analysieren. Erfahrung ist typischerweise »wild«, in dem Sinn, den mein Vater so verabscheute: unphilosophisch, irrational, unkontrollierbar, unberechenbar. Tatsächlich passt sie sehr genau zur wilden Natur – trotz unserer nicht enden wollenden Bemühungen, sie wie einen Garten zu behandeln, das heißt disziplinierende intellektuelle und gesellschaftliche Systeme einzuführen. Nahezu alle Fülle unseres persönlichen Lebens ist von diesem synthetischen und ewig präsenten »verwirrten« Bewusstsein sowohl der inneren als auch der äußeren Realität abzuleiten, und zwar nicht zuletzt, weil wir wissen, dass sie über die analytische, ja destruktive Fähigkeit der Wissenschaft hinausgeht.
 

Mit der Natur eine Beziehung aufzubauen ist sowohl eine Wissenschaft als auch eine Kunst jenseits reinen Wissens oder Fühlens [...] Ich denke, dass Natur auch nicht zu erreichen ist, indem man sie in eine Therapie verwandelt [...] Unsere subtilste und am schwersten zu begreifende Entfremdung von ihr ist das Bedürfnis, sie in irgendeiner Form zu nutzen, einen persönlichen Gewinn daraus zu ziehen. Wir werden die Natur (oder uns selbst) nie verstehen und sie bestimmt nie achten, bis wir das Wilde von Nützlichkeitserwägungen trennen – wie unschuldig und harmlos der Nutzen auch sein mag. Denn unsere alte Feindseligkeit und Gleichgültigkeit der Natur gegenüber wurzelt in ihrer generellen Nutzlosigkeit von so vielem in ihr.

Im Zentrum unseres zwangsläufigen Zusammenlebens mit all den anderen Spezies unseres Planeten herrscht eine Art Kälte, lieber noch würde ich sagen: eine Stille oder auch Leere. Richard Jefferies prägte dafür ein Wort: das »Ultra-Menschliche« von allem, was nicht Mensch ist, nicht mit uns oder gegen uns, sondern außerhalb von uns und darüber hinausgehend, wahrhaft fremd. Es mag paradox klingen aber wird werden unsere durch unser Wissen, durch unsere Gier oder unsere innere Leere bewirkte Entfremdung von der Natur nicht überwinden, bis wir ihr auch ihre unbewusste Entfremdung von uns zugestehen.


Wissenschaft hat wenig Zeit für kleine Ausnahmen. Doch die ganze Natur besteht wie die ganze Menschheit aus kleinen Ausnahmen, aus Gebilden, die auf ihre Weise, so wissenschaftlich vernachlässigbar es sein mag, nicht mit der allgemeinen Regel übereinstimmen. Ein Glaube an diese Art von Ausnahme gehört zum Wesen der Kunst wie der Glaube an den Nutzen der Verallgemeinerung zum Wesen der Wissenschaft. Tatsächlich könnte man die Kunst als den Zweig der Wissenschaft bezeichnen, an dessen Erreichen die heutige Wissenschaft durch ihre eigenen sie einengenden Lehrsätze und Philosophien (wieder dieser alte hortus conclusus) gehindert wird.


Solange die Natur als etwas betrachtet wird, das außerhalb von uns existiert, als uns gegenüber Fremdes und Abgegrenztes, Separates, ist sie sowohl für uns als auch in uns verloren.


John Fowles, Der Baum

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