Lektüre

21.10.2024

Lektüre21. Oktober

Ich denke an Letizia. An diese ungeheure Frau, die in vollkommener Gegenwart ihrer 84-jährigen Vergangenheit lebt.
Ich denke an mich, der es wieder einmal gelungen ist, allen Gefühlen des Kleinbürgers, denen ich lebenslang entflohen bin, allen Regeln des Alltags, in denen ich notgedrungen gelebt, die ich aber nie akzeptiert habe, zu entfliehen. All das, wenn auch nur während dieser Fahrt, zu erwürgen. Ich wusste, dass ich weder Bürger noch Kleinbürger bin. Diese kleine Erkenntnis erfüllt mich mit Mut zum Widerstand.


Wie oft glaubt man, dass alles zu Ende sei, aber kein Leben genügt, die Unendlichkeit des Lebens nachzuempfinden.


Immer sind es unbekannte Menschen, die uns mehr bieten als Menschen, nach denen wir streben. Warum lässt man das Leben nicht unter Unbekannten weitergehen. Ohne jede Erwartung, jede Last und ohne jene kurzen Augenblicke, die man sich als Glück einbildet. Das angenehmste Gefühl ist die Gefühllosigkeit, mit der man die ganze Welt und alle Menschen umarmen kann.


Ich liebe die Bücher und Filme nicht, in denen es heißt, die Personen und die Schauplätze seien erfunden. Nichts kann erfunden werden. Jede Erfindung ist eine noch nicht bekannte Tatsache.


(Ich denke an Cesare Pavese, der fast lebenslang bei seiner Schwester Maria gelebt hat. Und immer allein.)
Wir fahren in die Abenddämmerung hinein und werden im Dunkel der Nacht in Turin ankommen.
Ich habe vor, noch heute Nacht durch die Straßen zu gehen, die ich aus seinen Beschreibungen kenne. Von unzähligen Erlebnissen, in deren Tiefen dieser Einsame unserer Zeit leben und Selbstmord begehen musste und nicht lieben durfte.
Als der Zug sich Turin nähert, regnet es glücklicherweise. Ich habe den Regen immer geliebt. Regenwetter ist das Einzige, was meiner inneren Welt entspricht.
Ich fürchte die Einsamkeit der Nacht, in die ich fahre.
Nach diesen beiden Kaffees bin ich wieder hellwach geworden.
 

Tezer Özlü, Suche nach den Spuren eines Selbstmordes

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