Lektüre

05.09.2025

Lektüre5. September

Ich habe schon immer schreiben wollen, als wäre ich bei Erscheinen des Textes nicht mehr da. Schreiben, als würde ich bald sterben, und es gäbe dann niemanden mehr, der urteilt. Auch wenn der Glaube, die Wahrheit könne erst durch den Tod zum Vorschein kommen, eine Illusion sein mag.


Nach dem Aufwachen griff ich meist als Erstes nach seinem im Schlaf erigierten Penis und hielt ihn fest, als umklammerte ich einen Ast. Ich dachte, »solange ich das hier in der Hand halte, bin ich nicht verloren in der Welt«. Wenn ich heute über diesen Satz nachdenke, scheint mir, ich meinte damit, dass nichts zu wünschen übrigblieb, wenn meine Hand den Penis dieses Mannes umschloss.


Zu dem Zeitpunkt fragte ich mich nicht, ob mein Verhalten und meine Wünsche richtig oder falsch waren, genauso wenig, wie ich es mich hier beim Schreiben frage. Manchmal denke ich, dass man durch diesen Verzicht am sichersten zur Wahrheit vordringt. 


Man kann diese Suche und dieses frenetische Zusammensetzen von Informationen als etwas Intelligenzwidriges verstehen. Ich sehe eher die poetische Funktion, dieselbe, die auch in der Literatur, der Religion und der Paranoia am Werk ist.

Im Übrigen schreibe ich über die Eifersucht, so wie ich sie durchlebt habe, indem ich meine damaligen Wünsche, Gefühle und Handlungen aufspüre und erforsche. Das ist für mich die einzige Möglichkeit, diese Obsession zu etwas Materiellem werden zu lassen. Dabei fürchte ich immer, dass mir etwas Wesentliches entgeht. Schreiben ist im Prinzip nichts anderes als eine Eifersucht auf die Wirklichkeit.


Meine Obsession und meinen Schmerz hier im Schreiben bloßzulegen, ist etwas anderes als die Bloßstellung, die ich fürchtete, wenn ich mich in die Avenue Rapp begeben hätte. Schreiben bedeutet zunächst einmal, nicht gesehen zu werden. So grausam ich die Vorstellung fand, mein Gesicht, meinen Körper, meine Stimme, alles, was mich ausmacht, in dem Zustand der Fremdbestimmung und Verlassenheit, in dem ich mich befand, einem anderen Blick auszusetzen, so sehr empfinde ich heute keine Scham dabei – und empfinde es auch nicht als schwierig –, meine Obsession zu benennen und zu beschreiben. Wenn ich ehrlich bin, empfinde ich überhaupt nichts. Ich will nur die Fantasien und Verhaltensweisen der Eifersucht erforschen, die in mir am Werk war, will etwas Individuelles, Intimes zu einer greifbaren, verständlichen Substanz machen, zu etwas, das fremde Menschen, die für mich im Moment des Schreibens gegenstandslos sind, sich vielleicht aneignen können. Nicht mehr nur mein Verlangen, meine Eifersucht finden sich auf diesen Seiten, sondern ein Verlangen, eine Eifersucht, und ich bin bei der Arbeit unsichtbar.


Annie Ernaux, Die Besessenheit

 

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