Ein Text zum Frühlingsanfang (meteorologisch)

01.03.2023

Ein Text zum Frühlingsanfang (meteorologisch)Andernorts


Würziger Duft. Tau im saftigen Gras. Über uns die ersten Blüten, sich öffnende Mandelknospen. Kühl und sehr still liegt der Stein, aus den Brüchen von Luni, im fernen Etrurien. Einst, unter Mühen, übers Meer und dann den Fluß hinauf in die Stadt gebracht, herrlich weiß damals, spiegelnd geschliffen, breitet er jetzt seine rissige graue Haut unter unsere Rücken. Hier, hier also. Mehr läßt sich lange Zeit nicht denken, während die Hände über die Kerben und Furchen tasten und sich der Blick zwischen den schimmernden Blättern der Olivenbäume hinauf ins Blaue verliert. SENATVS · POPVLVSQVE Schwarz blinkend steht nächtliches Regenwasser in der gemeißelten Inschrift, seit zweitausend Jahren fressende Fäulnis. Ein Vögelchen kommt und tunkt seinen Schnabel hinein, flattert gleich wieder fort, zu den anderen. Ein Nest muß gebaut werden. Und nicht länger lockt mich der Sog in die Tiefe, hinab in der Zeit. Nichts ist hier ewig. Nichts bleibt sich gleich. Der Augenblick gibt alles. Nur so daliegen und ruhig atmen mit den Pinien. In großen Zügen den Balsam der Luft trinken. Bis in die Zehen hinunter. Und der Himmel beginnt zu glühen. Allmählich erwärmt sich der Stein.

Andernorts. Schneeregen. Die Mantelkragen hochgeschlagen. Kleine Dampfwolken vor Nasen und Mündern. Alles hustet. Kaum ein Lächeln. Unter den Schuhen knirscht es morgens und abends, vier Monate hindurch, Sand und Kies vermengt mit Schneematsch, Hundekot, Scherben, Zigarettenkippen. Und die vielen Tage, an denen es nie hell wird. · Denk nicht daran. · Ich will es versuchen.

Jeden Tag von neuem: Das Glück hier auf der Straße liegt. Wie lange noch? Nicht daran denken. Ich bitte dich. Sonst fliegt es fort. Und du findest es nicht mehr wieder. Nur so treiben lassen. In das träge Wasser des Flusses schauen. Das Geschwirr aus Hupen und Rufen und Türenschlagen um den Kopf. Und dann wieder die Dinge genau ansehen. Die Farben der Fresken, das Leuchten des Rot, Blau, Gelb und Grün. Einen Riegel an der Mauer, der den Fensterladen hält. Die Marmorfußböden. Vollsaugen, aufpacken für … Ach, denke nicht daran.

Jetzt aber die Schläfrigkeit abschütteln. Gerade zeigt sich ein erster grauer Schimmer in den Ecken des Zimmers, sickert durch die Fensterläden herein. Doch im Haus klappert es schon überall. Ich schleiche mich ins Bad, renne ein paar Minuten später bereits die Treppe hinunter und gehe dann in der frischen Morgenluft allein durch unser Viertel, bis zum Corso. Ein nächtlicher Regen hat die Straßen spiegelblank gewaschen. Der halbe Meter vor der Tür wird dennoch wie jeden Morgen eifrig gekehrt. In den Bars stehen schwatzend und lachend die Schulkinder mit ihren Vätern, die noch rasch, bevor sie an die Arbeit müssen, ihren Kaffee trinken und dabei immerzu in ihren kleinen Tassen rühren.

Vor den Türen der Geschäfte wird bereits Posten bezogen. Grüßen, Rollädenhochschieben, Fensterklappern, dazwischen von Ferne immer wieder das Ausklopfen der Betten. Eine Dame im Pelzmantel führt ihren Hund aus. Bleibt alle paar Meter stehen, nicht unbedingt wegen ihres Lieblings. Und ich als einziger ohne Ziel als dem, ziellos umherzugehen, meinen Körper beim Gehen immer weiter und weiter öffnend für die Geräusche, Gesichter, Gerüche, das Glitzern der Morgensonne und die tiefen Schatten in den Höfen. Denke dich mir noch in Träume versunken in den Kissen liegend, während mir bereits der Geruch von Kaffee und frischem Brot in die Nase steigt und mich hungrig macht. Auf ein Frühstück und auf den neuen Tag. Ein blutroter Samt zieht mich unwiderstehlich zu einem Schaufenster, hinüber auf die andere Straßenseite. Dieses Rot! Wenn man das malen könnte. Eine Märchenlandschaft, auf den Hügeln von glühendem Licht, die faltigen Schluchten finster blickend, funkelnde Staubpartikel an ihrem Saum.

Jetzt ist sie versunken. Und ich habe zu lange geträumt. Komme zu spät, um dich mit dem Frühstück zu überraschen. Aber ein paar Blüten bringe ich mit. Wie du lachst. · Wohin gehen wir?

Meine Finger drücken sich in den rotbraunen Boden. Das ist auch Erde. Ganz echt, duftend, nicht nur gemalt. Aus ihr ragen Säulenreste wie Baumstümpfe, von zotteligem Gras umwuchert. Die Natur spinnt längst wieder ihre eigenen Arabesken. Zersprengt die ihr fremde Ordnung aus behauenem Stein, begrünt und bevölkert sie mit Großem und Kleinem. Mit der Zeit umgeht sie jedes Hindernis, findet einen Weg, dorthin, wo Nahrung ist, hinauf zum Licht und hinunter zum Wasser, das sich zwischen den verborgenen Fundamenten staut. Meine ersten Orangenbäume.

Wir können uns nicht vorstellen, was hier stand. Wollen es auch gar nicht. Lassen uns von den farbigen Zeichnungen im mitgebrachten Buch nicht länger helfen. Sondern packen die Bleistifte und Farben und Pinsel aus, tauchen sie in die verwaschenen U·s und A·s und Q·s, in denen das Regenwasser steht, und beginnen unsere eigenen Bilder. Verliebt ins Fragment. Ein Mund, ein Arm, ein gewinkeltes Knie unter hauchzartem Stoff. Verblaßte Farben an bröckelnden Wänden. Eierstab und Zahnschnitt. Darunter welkende Akanthusblätter. 

Was siehst du immer dort hinüber? · Hörst du es nicht? Es ist ein Brausen in der Luft, man meint, die Palmen müßten sich zu uns herunterbiegen! Hörst du es noch nicht? Der Boden bebt wie unter tausend Pferdehufen! · Was hat das zu bedeuten? Staub wirbelt in der Luft, nicht weiter als fünf Schritte kann man sehen. Ein Wiehern treibt den Dunst wie eine Wolke fort. Nun wird es klar. Wie anders ist der Ort. Und wer sind diese zwei? Sind sie’s, die beiden Riesen, die Reiter voll Geheimnis, die Zwillinge? Was trieb sie herunter von ihren Postamenten links und rechts der Treppe vor Michelangelos Platz, hierher, wo alles in Trümmern liegt? Die Farbe, die ihren Augen Leben gab, ist verschwunden, ihr Blick – doch ist das überhaupt noch ein Blick? – wie tot. Leer wie der Anfang und das Ende. So glotzt das Nichts. Regungslos stehen sie, gerahmt von den drei letzten Säulen ihres Tempels, unterm Gebälk, die schnaubenden Pferde am Zügel. Spüren sie nahenden Krieg oder Meeresgebrüll und nach Rettung schreiende Seenot? Es lähmt sie das vielstimmige Rufen, mehr als doppelt müßten sie sein, um allen helfend beispringen zu können. Oder suchen sie Iutur, den Friedensquell, der ihre Pferde tränkte und aus dem sie schöpften, mit vollen Händen, uns allen zum Segen?

Versiegt ist er längst. Aber das Rohr gibt noch Wasser. Dein Hemd leuchtet so weiß in der Mittagssonne, komm, laß uns trinken aus dem Brunnen. Und ich bin hungrig. Diese Landschaft, dieses Klima sind für den Menschen gemacht. Aber wir sind keine Bauern, und so ernährt es uns nicht. Gehen wir hinüber, auf die andere Seite des Flusses, setzen uns an einen Tisch mit kariertem Tuch, das sich im Winde bauscht, und dann wird uns aufgetragen, was seinen Weg durch viele Hände ging. Wein, Brot, Muscheln, Pasta, Saucen, Salat, Obst, Kaffee. Unter der Brücke findet sich ein Plätzchen im Schatten für die Ruhe bis zum Nachmittag, wenn es noch einmal Kaffee gibt und man von neuem Lust verspürt, durch die Straßen zu ziehen.

Angekommen. Endlich.

Durch die Straßen tost der Abendverkehr. Selbst in den schmalen Gassen werden wir nicht verschont. Vor den Motorrädern flüchten wir in die Hausflure, gehen eng an den Mauern entlang. · Ich weiß einen Ort. Die Villa von Chigi, mit dem Garten, an der Mauer rechts der Stein:

QVISQVIS · HVC · ACCEDIS:

QVOD · TIBI · HORRIDVM · VIDETVR

MIHI · AMAENVM · EST.

SI · PLACET, MANEAS,

SI · TAEDET · ABEAS

VTRVMQVE · GRATUM

Oder der Palazzo der Altemps. Bemalte Holzdecken, schneeweiß gekalkte Wände darunter. Die Galerie mit den herrlichsten Köpfen und Armen und Beinen. · Und hier, sieh. Gibt es ein schöneres Theater? Das machte ich dir gern zum Geschenk.

Und wieder Risse unter den Fingern. Jetzt beim Schreiben auf dem Holztischchen in unserem Zimmer. Wer hat hier alles schon gesessen und seine Hände auf die dunkle Platte gelegt? Das Papier liegt wartend bereit, leuchtet noch immer weiß, aber heute lockt es mich nicht. Groß und glühend versinkt die Sonne hinter den Dächern. Scharf zeichnen sich gegen den verblassenden Horizont die Schatten der Palmen und Oleanderblätter in den Tontöpfen. Geschirrklappern dringt über den Hof zu mir herauf. Vielstimmiges Lachen. Die Hügel nehmen sich bei den Händen und rücken schützend und die Wärme haltend um die Stadt. · Wo bist du? Es ist fast ganz dunkel. Soll ich nicht Licht machen? · Nein, warte. Ich sehe noch keinen ersten Stern. Und dann kommst du zu mir ans Fenster und legst deinen Arm um mich. Hier also. Hier. Unsere Lampe bleibt dunkel.

Der fremde Blick. Der aus der Fremde mitgebrachte Blick. Wie häßlich macht er diese Stadt, die wir die unsrige nennen. Weshalb kehren wir ihr nicht den Rücken? Ist es denn nicht Zufall, der uns hierher brachte? Warum fügen wir uns ihm? Das Reisen macht mich auf lange Zeit unfähig für das Leben daheim. Trostlos. Nein, nicht ganz ohne Trost. Die Freunde sind dort. Und wir glauben nicht, daß sie, wie sehr auch alles sonst, uns zufällig begegnet sind, austauschbar wie der Ort.

Aber: Diese Stadt war die ganze Zeit über, während ich in Arbeit, die nicht die meine war, versunken saß. Menschen gingen über die Plätze, sprachen, kauften Gemüse auf dem Markt. Der Verkehr staute sich in den Straßen, die Tauben gurrten und pickten vor den Kirchen, die Sirenen heulten, nur ich war abgeschnitten von diesem Strom. Andernorts. So sehr erstickt in Arbeit, daß nicht einmal Zeit für die Erinnerung blieb. Traumlos die Nächte lange Zeit.

Hier kehren mir die Träume zurück. So stark. Oder ist es Versonnensein? Melancholie? Ausgerechnet hier, wo alles wach und laut durchs Leben läuft, die Oberfläche um und um pflügend. Paßt es hierher? Mir ist so gar nicht nach Schreien und Rennen. Für wen aber stehen denn die plätschernden Brunnen bereit, nur für uns Fremde?

Doch dann treten wir ein in San Lorenzo, gehen durch die kleine Pforte hinüber in den Kreuzgang und bleiben nach wenigen Schritten erstaunt und beglückt stehen. Finden ihn dort, den Mönch, zwischen den Mosaiken und Spolien, den Kopf gestützt in die rechte Hand, die linke locker auf den Oberschenkel gebettet, schlafend, sinnend, träumend, wer weiß. Wie alt mag er sein? Seine Beine umspielt bis weit über beide Füße der reiche Faltenwurf seiner weichen Kutte. Ein schönes, regelmäßiges Gesicht, gerade Nase, schmale Lippen, ein Doppelkinn, nur zart angedeutet. Eine Art Turban bedeckt den Kopf bis über die Stirn, das feine Ohr aber läßt er zur Hälfte frei. Unsere Neugier bleibt unbefriedigt, kein Zettelchen sagt uns etwas, und auch der Reiseführer schweigt. Wie immer findet sich nur eine Nummer, sechsundsechzig. Wir nehmen sie als gutes Omen. Auch wenn ich lieber den schlafenden Marmor nähme, für ein sonniges Zimmer zu Hause, wo ich ihm täglich ein paar Blüten streute.

Unten summt der Türöffner. Ein Windzug spielt mit den leer gebliebenen Blättern, weht sie zu Boden und ein Stück über die Fliesen hin. Schritte poltern auf der Treppe. Nähern sich langsam, ein wenig schlurfend. Jetzt an unserer Tür, und vorbei. Also noch eins höher hinauf. Auf einmal viele Stimmen, Rufen und Lachen, bis die Tür wieder zugeschlagen wird. Dann Stille. Stille.

Komm, jetzt ist es wirklich Zeit für die Lampe. 


Die Inschrift lautet übersetzt: Wer immer du seist, der hierher kommt · Das, was dir schrecklich erscheint · Ist mir angenehm · Wenn es dir gefällt, bleibe · Wenn es dich ekelt, gehe · Beides ist mir recht

Zuerst erschienen in der edizione uccello, 2003

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