Maxie Wander



Mit Luise Boege (Schriftstellerin)

In der Reihe REVOLUTION IN EUROPA 68|89
Juni 2019
Literaturhaus Berlin

 

Maxie Wander

In der von mir am Literaturhaus Berlin kuratierten Reihe REVOLUTION IN EUROPA 68|89 fand im Juni 2019, zusammen mit der Schriftstellerin Luise Boege, ein Abend zu Maxie Wander und ihrem berühmten Buch »Guten Morgen, du Schöne« statt:

»Maxie Wanders Protokolle nach Tonband erregten 1977 in Ost wie West sofort und langanhaltend allergrößtes Interesse: 19 Frauen unterschiedlichen Alters, aus verschiedenen Berufen und Schichten, sprechen offen über ihre Erfahrungen als Mensch, Frau, Arbeitskraft in Familie und sozialistischer Gesellschaft. Maxie Wander hatte genau hingehört zu einem Zeitpunkt, als die Frauen zu fragen begannen, woher die Fremdheit zwischen den Geschlechtern herrühre und die zwischen Individuum und Gemeinwesen.

Die Schriftstellerinnen Luise Boege (*1985 Würzburg) und Bettina Hartz (*1974 in Ost-Berlin) sind dazu in einen Dialog getreten, und befragen mit Maxie Wander ihre Herkunft und ihre (weibliche) Gegenwart. Neben ihren Texten werden zwei Protokolle aus der DDR-Schallplattenproduktion zu hören sein – und das Publikum ist herzlich eingeladen, eigene Erfahrungen zu teilen.« (Literaturhaus Berlin)
 

Am Abend wurden die folgenden Porträts aus Maxie Wanders Buch vorgestellt:

Rosi – Das Haus, in dem ich wohne (gelesen von Jutta Wachowiak),
Ute – Großfamilie (gelesen von Katrin Klein),
Ruth – Warten auf das Wunder (gelesen von Simone von Zglinicki)

(aus der Schallplattenproduktion des DDR-Labels Litera von 1985: Guten Morgen, du Schöne: Sechs Frauenporträts nach dem Buch der Maxie Wander, Zwei Aufführungen des Deutschen Theaters Berlin, künstlerische Leitung: Regina Griebel und Gabriele Heinz).

 

(Protokoll Bettina, gelesen von Luise)

Ich habe die Ausgabe von 1980, also die DDR-Taschenbuchausgabe, das weiß ich, weil meine Eltern mir zur Jugendweihe Ex Libris geschenkt haben und das Buch hat die Nummer 103, das muss noch vor der Wende gewesen sein. Ich hab es damals aber nicht gelesen. Ich glaube, ich bin zu Maxie Wander gekommen über Christa Wolf – das ist über zwanzig Jahre her. Das war so ein wichtiges Buch in der DDR, wirklich in aller Munde, man weiß, was darüber gedacht wurde, wie vielleicht »Deutschstunde« im Westen, da hat man auch irgendeine Art von Vorstellung. In der Uni hätte ich nie irgendetwas zu »Frauenliteratur« oder »DDR-Literatur« gemacht, ich wollte eher Mainstream-Literatur machen, ich wollt ja westlich sein und männlich sein und hab mich mit Gryphius befasst und Goethe und so, mit den männlichen Schriftstellern. Das hat sich geändert, das kam erst später, dass ich mich zu meinem Ostdeutsch-Sein bekenne, wie auch zu meinem Frau-Sein, ich habe da jetzt so ein anderes Selbstbewusstsein. Ziemlich coole Aussagen, oder? Ich würde weibliche Schriftstellerinnen auch immer dagegen verteidigen zu sagen, das ist ja »nur Frauenliteratur«, wo ist denn bitte der Qualitätsunterschied zwischen Virginia Woolf und Proust – ich würde kontern und sagen, Joseph Conrad ist ja totale Männerliteratur, so was liest du? Das hätte ich mich aber im Studium nie getraut, da wollte ich mich mit Thomas Mann beschäftigen, weil mein Großvater Thomas-Mann-Enthusiast war und ihm aus der Kriegsgefangenschaft einen Brief geschrieben und auch Antwort bekommen hat. Ein Gott! Frauen sind immer zweite Garde, ich bezweifle, dass Bücher wie »100 berühmte Frauen« gut sind, oder wenn man sagt »auch Frauen können schreiben« – ich würde ja eher sagen »es gibt Literatur«, also »es gibt Menschen, die schreiben Literatur« ...

Ich nehme wahr, dass sich Frauen viel mehr für das, was sie tun, rechtfertigen müssen. Jungs werden dazu erzogen, in die Welt zu gehen und zuzugreifen, ohne zu fragen. Denen gehört die Welt, das ist ein Grundgefühl, was vermittelt wird. Frauen sollen sich verstecken, zuhören, bedanken, sich entschuldigen – das beobachte ich, es wird ihnen von der ersten Sekunde an vermittelt: Es ist nicht meine Welt, so wie es deine Welt ist. Zieh dir als Mann mal eine Woche lang Frauenklamotten an und nimm es dann wahr, wie es ist. Geh mal als Frau durch die Welt und schau, wie es ist. Was mir auch auffällt: Frauen sind für Männer in Beziehungen immer noch ne Nebensache, aber für Frauen ist der Mann die Hauptsache. So erlebe ich das. Alles dreht sich immerzu um diesen Mann. Die Frau ist immer ein Problem. Auch wenn sie gefeiert wird.

Ich wollte immer ein Junge sein – ich hab mich mittlerweile damit arrangiert, dass ich eine Frau bin, fand es aber insgesamt sehr ungerecht. Ich wollte immer durch meine Leistung beeindrucken, nie durch mein Aussehen, also ich fand es scheiße, dass man als Mädchen hübsch sein muss, niedlich, brav, ich wollte stark, mutig, laut sein und habe Jungs Ohrfeigen angedroht. Und dann diese Menstruationsblutung, dass alles mit Scham verknüpft war ... das ist doch irre, Männer erleben etwas als Lust und Frauen als Scham. Ja, ich wär gern ein Mann gewesen. Aber mit dem Kind denke ich das erste Mal, es ist doch auch ganz schön, Frau zu sein.

Als ich das Baby bekommen habe, habe ich vier Monate ausgesetzt und war schockiert, in was für ner Welt man dann landet. Ich hatte nur noch mit Frauen zu tun, alles dreht sich um dieses Baby. Der Tag ist eine Scheißanstrengung, du kriegst keine Pause und keinen Schlaf, und niemand sagt, toll machst du das. Du bekommst dafür null Anerkennung. Väter hören das vielleicht eher. Es ist eine absolut krasse Erfahrung gewesen. Was ich feststelle, Anerkennung kriegst du über die Arbeit und nicht dafür, dass du ein Kind hast, das ist bloß für dich selbst ne große Freude und wunderschön, sonst aber gar nicht. Das sagt auch viel über unsere Gesellschaft. Kein Wunder, dass es nicht so viele Kinder gibt.

Ich bin das jüngste Kind gewesen, ich habe einen fünfzehn Monate älteren Bruder und eine neun Jahre ältere Schwester. Meine Mutter ist in B. aufgewachsen, mein Vater kommt eigentlich aus dem Westen, der war ganz allein, sein Vater hat sich das Leben genommen als mein Vater zwölf war, die Mutter ist vier Jahre später an Krebs gestorben – und dann ist er 1960 nach B. gegangen, weil er sich in meine Mutter verliebt hatte. Dann wurde die Mauer gebaut, mein Vater hat in der DDR Abitur gemacht und dann studiert und Armeedienst und alles. Er war immer so ein bisschen der Außenseiter, hat das aber souverän gemeistert. Meine Mutter ... ja, deren Mutter war Ärztin, ihr Vater war ewig lang im Krieg, vom Naziarbeitsdienst direkt an die Front und dann in Kriegsgefangenschaft, als er zurückgekommen ist, haben sie noch drei Kinder bekommen, der war aber total zerstört vom Krieg, hat geraucht wie ein Schlot und sehr viel getrunken, und als meine Mutter sechzehn war ist er an Lungenkrebs gestorben. Ich kenne meine Großeltern also eigentlich alle überhaupt nicht, und ich denke immer, boah mein Kind hat Großeltern, ich selbst kenne das gar nicht als Gefühl. Ich hatte aber während der Schulzeit so eine Familienerzählung im Rücken, da gab's so eine akademische Tradition, da gab's so Heroen in der Familiengeschichte, es gab eine Urgroßmutter, die aus dem Englischen übersetzt hat und dies und das, also ich glaube, ich bin von den Familienerzählungen sehr vorgeprägt, was die Beschäftigung mit Literatur angeht ...

Meine Eltern waren so ziemlich auf Käseglocke, sehr harmoniesüchtig, vor allem meine Mutter. Wir haben eigentlich immer nur etwas als Familie gemacht, ich erinnere mich nicht, dass es Verwandte oder Freunde gegeben hätte. Mein Vater hat immer wahnsinnig viel im Haushalt gemacht, Möbel gebaut und renoviert und das Wochenendhäuschen hergerichtet, er hat immer alles besorgt und so, wenn man ihm helfen wollte, hat er gesagt, nee lass mal ... Bis heute regelt meine Mutter die Kommunikation und ist fürs Emotionale zuständig. Wenn ich meinem Vater eine E-Mail schreibe, antwortet meine Mutter. Mein Vater ist mehr als kauzig, er ist in dieser Hinsicht unfähig ... er hat keinen Kontakt zu Kollegen und keine Freunde. Das ist recht schwierig mit meinen Eltern, der Vater kommuniziert überhaupt nicht und die Mutter dafür im Übermaß.

Ich hatte als Kind ein sehr symbiotisches Verhältnis zu meinem Bruder, meine Schwester hat es schwer verkraftet, dass es da noch zwei jüngere Geschwister gab, die war auch magersüchtig in der Pubertät, ist früh von zu Hause ausgezogen und hat früh geheiratet und Kinder bekommen und sich früh scheiden lassen, aber da ist immer noch einiges im Argen, die war immer ein bisschen selbstzerstörerisch und schwierig. Mein Bruder und ich, wir hatten, glaube ich, so die Rolle, dass wir ohne Probleme sein sollten, da gabs nen ziemlichen Erfolgsdruck, den wir auch erfüllt haben, wir waren super ehrgeizig. Ich war auf einer Spezialschule, so einer Kaderschmiede für Fremdsprachen, das wäre auf diplomatischen Dienst oder so hinausgelaufen, da war der Druck schon relativ groß, von den Leistungen her – die DDR ist ja zusammengebrochen, als ich fünfzehn war, also ich weiß nicht, wie es noch geworden wäre da an der Schule oder wie es gewesen wäre, wenn ich zwei Jahre älter gewesen wäre, das ging nämlich grade so damit los, wer schaut auf die Karriere, wer wird in die Partei eintreten und so. Es herrschte in der Klasse eine ziemliche Konkurrenzstimmung, und ich war mit niemandem richtig befreundet, Freundschaften kamen erst später, während des Studiums.

Meine Eltern waren nicht in der Partei, aber haben trotzdem alles bedient, es war auch relativ klassisch, zu Hause redet man so und in der Schule so. Es waren ja aber schon die Achziger und nicht die Fünfziger – man konnte schon mehr sagen ... ja, man hat sich eher so aufs Private bezogen, auf seine Nische und war zum Beispiel im Theater und hat sich gefreut, wenn da mal was gesagt wurde, was so nicht in der Zeitung stand ... ich erinnere mich an die erste richtige Diskussion im Staatsbürgerkundeunterricht '89, die Niederschlagung der Studentenproteste in Peking, das hat uns in der Schule wahnsinnig mitgenommen, da habe ich gesagt: Es gibt kein Rauch ohne Feuer, irgendwas muss da doch sein, aber wir hatten so eine uralte Staatsbürgerkunde-Lehrerin, ganz auf Parteilinie, die das als Konterrevolution verdammt hat. Dann waren Sommerferien, und danach fehlten etliche Schüler, die hatten sich nach Ungarn und Prag abgesetzt mit ihren Eltern, ja, da hat es schon gebrodelt, dann waren die Montagsdemos und so, dann war dieser 7. Oktober, der 40. Jahrestag der DDR, und einige aus der Klasse sind tatsächlich zu diesem FDJ-Fackelmarsch gegangen, wo ich gesagt habe, das kann ich jetzt nicht glauben ... wir waren in der Familie schon sehr auf Öffnung und Reform aus, aber halt eher so Neues Forum, nicht unbedingt auf Wiedervereinigung. Und bis zur Volkskammerwahl dachte man ja noch, das könnte noch irgendwie mit der DDR klappen, dann wurde aber klar, jetzt wird es wie im Westen. Ich war im ersten Jahrgang, der Westabitur gemacht hat, Lehrer wurden entlassen, weil sie bei der Stasi gewesen sind, die Schule wurde geöffnet und war plötzlich völlig überlaufen und chaotisch, keiner wusste, wie dieses Punktesystem funktionierte, die Lehrer mussten noch mal das zweite Staatsexamen machen, aber es war ja auch toll, weil sich eben alles geöffnet hat und man ins Ausland fahren konnte und so ...

Das prägt schon sehr den Blick auf die Gesellschaft oder den Staat, wenn man erlebt, dass Staat und alles nur Konstruktionen sind ... ein Vertrauen, dass etwas immer so weitergeht, hab ich nicht. Aber ich glaube schon auch, es ist sehr wichtig, wie alt man ist, wenn man so etwas erlebt, was man für Schlüsse draus zieht oder Strategien entwickeln kann. Ich war ja jung und hatte nichts zu verlieren, aber wenn jemand fünfzig ist, sieht das natürlich ganz anders aus. Was ich als schlimm empfunden habe, war zu erleben, wie an der Uni Neuberufungsverfahren abgelaufen sind, wie Leute aus der DDR abgesägt worden sind und Leute aus dem Westen kamen. Davor hab ich immer noch Angst, ausgetauscht zu werden, dass es keine Rolle spielt, was du für ein Mensch bist und wie deine Biografie ist. Ich habe ziemlich mitbekommen und aufgesaugt, wie Leute sich verändern je nach dem System. Es gab Klassenkameraden, die plötzlich Jura studiert oder eine Bankkauflehre gemacht haben, obwohl sie sich vorher für Komposition interessiert haben und ihnen jetzt die Welt offenstand. Ich hab ein totales Gespür entwickelt für Konformismus und opportunistisches Verhalten. Ich kann die Mechanismen von Hierarchie und Heuchelei nicht ertragen und hab einen großen Freiheitsdrang, deswegen kommt ganz viel in diesem System nicht in Frage für mich. Ich hab in Praktika und verschiedenen Jobs später mitbekommen, wie Leute den Fußboden lecken, im Theater zum Beispiel, das war grauenhaft, oder die Vorstellung einer Redaktionskonferenz bei der Zeitung, die Hierarchien, das Katzbuckeln, oder, wieder eine andere Sache, Kolleginnen im Waldmuseum, wo ich ein Jahr gejobt habe, wie die sich vor der Arbeit drücken, die Zeit totschlagen ... Grauenhaft. Ich hatte dann immer Bücher dabei und hab gelesen, aber das kam nicht gut an. Fest angestellt irgendwo arbeiten kommt für mich nicht in Frage. Man erkauft sich Sicherheit für Freiheit, und es ist schon die Frage, ob das Leben sinnvoll ist, wenn man in einer Hierarchie Aufgaben erfüllt. Ich glaube nicht unbedingt, dass das, was ich tue, die Welt verändert, aber ich lebe immerhin selbstbestimmt, das ist mir wichtig. Ich kann Dinge gut um ihrer selbst willen tun, aber nicht, damit sie dieses oder jenes vorbestimmte Muster erfüllen. Zum Beispiel so ein Krankenhaus-Apparat, Behörden, wenn ich so Formulierungen höre wie »das ist nicht mein Aufgabenbereich«, da gruselt’s mich, das erinnert mich alles so an DDR, zum Beispiel an so etwas wie, der Pionierrat wird gewählt, lauter so unsinnige Aufgaben, Wegduckerei, Nachdemmundreden ... ich bin einfach imprägniert mit dieser Atmosphäre, und da schrillen bei mir sofort alle Alarmglocken.

Meine Mutter ist nach der Wende innerhalb der Uni, wo sie gearbeitet hat, versetzt worden, und mein Vater hat nach Abwicklung seines Betriebs sofort eine neue Stelle gefunden ... ich hab das Germanistikstudium durchgezogen und während des Studiums noch zu Hause gewohnt. Ich hatte eine sehr enge Bindung zu meiner Mutter, die auch sehr von einer gemeinsamen Beschäftigung mit Literatur geprägt war, das war hart für sie, als ich ausgezogen bin, und es plagen mich immer noch Schuldgefühle deswegen, wir haben uns jahrelang furchtbar gestritten, aber jetzt habe ich ja selbst ein Kind, da hat sich vieles gelöst, auch wenn ich merke, wir haben schon abweichende Familienvorstellungen. Ich erinnere mich auch zur Zeit viel an die eigene Kindheit, so ganz subtile Erinnerungen, Bestrafungsdinge, Verweigerung der Kommunikation, wie die Stimme in manchen Situationen wird – niemand ist ja frei davon. Erziehung muss sein, ist aber irgendwie auch grauenhaft. In »Guten Morgen, du Schöne« gibt es von Ruth diesen Satz: »die Erwachsenen stören die Kinder fortwährend«, das finde ich sehr treffend, allein durch ihre ständige Anwesenheit im Leben der Kinder, ihre Projektionen, ihre Schubladen. Die erste Frage lautet, ist es ein Mädchen oder ein Junge, und ist das Kinderzimmer schon fertig ... Da wird der Mensch schon fertiggemacht, wenn es gerade erst losgeht.

Bis Mitte zwanzig war ich völlig verklemmt. Sexualität ist etwas sehr Wichtiges für mich, aber damals hatte ich den totalen Horror – bloß nicht schwanger werden, oder Angst, Männer nutzen mich total aus. Ich fand die meisten auch einfach nur aufgeblasen und dumm. Dann hatte ich eine ziemlich wichtige Beziehung zu jemand, der älter war, der hat einfach alles zugelassen, da bin ich durch einiges durchgekommen. Dann war ich mit einer Frau zusammen und hab festgestellt, mit Frauen ist es nicht einfacher. Was interessant ist, ist, wie stark sich die Wahrnehmung des eigenen Körpers verändert, wenn der Partner ne Frau ist, das Begehren war ganz anders. Mit dem Vater meines Sohnes hatte ich eine schöne Zeit, aber als ich schwanger wurde, war es hochdramatisch, ich kam absolut nicht klar mit der Abhängigkeit und den körperlichen Veränderungen, da hatte ich nur noch Panik. Schwere Schlafstörungen, Panikattacken ... Ich hätte Geborgenheit und Schutz und Sicherheit gebraucht, das kam aber alles nicht. Sowie das Kind nicht mehr total abhängig von mir war, haben wir uns dann getrennt. Inzwischen haben wir eine gute Aufteilung bezüglich des Kindes, und ich muss nicht mehr darüber nachdenken, wie ich ein halbwegs funktionierendes Familienleben aufrecht erhalte. Ich weiß jetzt, dass ich mit niemandem zusammenwohnen möchte außer mit meinem Kind. Das ist für meine Mutter schwer verständlich, die hat lange im Kopf gehabt, ich würde irgendwann den »Richtigen« finden, Kleinfamilie, heile Welt. Für mich die Hölle. Ich finde teilweise schwer nachvollziehbar, wie andere ihre Beziehungen führen ... Ich bin ein treuer Mensch, aber ich brauche nicht den permanenten Austausch und diesen geteilten Alltag. Ich will nicht dauernd sagen, wie ich fühle und denke, und ich will selbst auch nicht jedes Wehwehchen und Problemchen hören, das langweilt mich. Ich brauche viel Zeit für mich, zum Nachdenken, Lesen und Schreiben. Ich will auch nicht für einen erwachsenen Menschen verantwortlich sein. Ich will eine Beziehung auf Augenhöhe, ich will auch streiten können und nicht ständig den anderen überzeugen müssen oder umgekehrt. Sporadisch eine intensive Zeit haben und dabei getrennte Haushalte führen, find ich gut. Zum Glück sind der Vater meines Kindes und ich uns bei Erziehungsfragen in großen Teilen einig. Man muss jemanden kennen, mit dem man sich vorstellen kann, ein Kind zu haben, der das Kind genauso lieb hat. Er muss es nicht genauso machen, aber genauso gut, dann sind alle möglichen Konstellationen lebbar.

Ich wäre gern ein weniger ängstlicher Mensch, ich wäre gern unbeschwerter, denke viel zu viel nach. Ansonsten aber ist man ja, wer man ist, und man ist in jedem Lebensalter, wer man ist – wo ich jetzt bin, war ich vor zwanzig Jahren noch nicht. Diese ganzen idiotischen Kämpfe und Verzweiflungen, da kann man keine Abkürzungen gehen. Ich finde den Zustand mit vierzig eigentlich ganz gut, bis auf den körperlichen Verfall, alt werden, nicht mehr die Kraft haben, das ist nicht schön, davor habe ich Angst, oder der Gedanke, dass meine Eltern sterben. Aber ich bin schon auch neugierig, was noch kommt, wer weiß, vielleicht ist es mit Mitte fünfzig schon ganz toll, und ich fühle mich immer freier: nicht mehr glauben, einer Sache hinterherrennen zu müssen, die mit mir nichts zu tun hat.

Etwas, das mich sehr nervt, das bei meinem Sohn jetzt losgeht, ist immer dieses »meins, deins« ... dass Eigentum in unserer Gesellschaft so wichtig ist ... Wenn ich sagen müsste, dass etwas typisch westdeutsch ist: ständig läuft der Rechner im Kopf, was wie viel kostet und wer wie viel bezahlt hat, 2,95 hier und dort, die ganze Zeit werden diese Tabellen geführt, und man kann umgekehrt auch niemandem etwas schulden, schuldig bleiben. Das war in der DDR nicht so, Geld hatte man genug, es gab ja nichts zu kaufen. Ich fände gut, wenn wir in einer Gesellschaft leben würden, die mehr auf das Gemeinwohl schaut, mit Steuern, die allen zugutekommen und nicht nur einzelnen. Dass den Leuten mehr Sicherheit gegeben wird, eine Grundversorgung, dass man, auch wenn man mal krank ist und vier Kinder hat, keine Angst hat, abzurutschen. Außerdem fände ich gut, wenn wir lernen, dass die Natur und die Tiere dieselben Rechte haben wie wir und wir die nicht ausbeuten. Dass sie einfach da sein dürfen, weil sie da sind. Dann: der Weltzustand im Ganzen macht mir Angst, ich glaube nicht mehr, dass wir das noch hinbekommen. Ich weiß auch nicht, wie man da optimistisch sein soll. Mein Eindruck, das ist in nem viel dramatischeren Ausmaß genau das, das wir im sogenannten Sozialismus gesehen haben, weshalb dieser Versuch gescheitert ist: Alle wissen Bescheid, aber niemand tut was, weil jede Veränderung Angst macht, an Privilegien rührt. Diese Unfähigkeit, Wissen in Handeln zu überführen. Lieber verdrängen wir, es gibt bei uns Menschen einfach diese Unfähigkeit, etwas im Leben zu ändern.

Literaturhaus Berlin_Abend zu Maxie Wander

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