Entwurzelt
Dass das Exil für den, der exiliert wurde, nicht vergeht, so sehr er oder sie sich auch bemüht, im neuen Land heimisch zu werden, haben viele, die durch die Flucht aus Nazi-Deutschland ihr Leben retten konnten, beschrieben. Eindrücklich erzählt von dieser existentiellen Erfahrung der Entwurzelung auch der 1928 in Reinbek bei Hamburg geborene Georges-Arthur Goldschmidt, den seine Eltern, als er zehn Jahre alt war, zusammen mit seinem älteren Bruder in einen Zug nach Florenz setzten – und nie wiedersahen. Goldschmidt floh ein Jahr später weiter nach Frankreich, wurde erst in einem Internat, dann bei Bauern versteckt, lernte Französisch und den Geist des Widerstands kennen, auch aus der Literatur. Aber heimisch wird er nie. Ebenso wie die Selbstverständlichkeit seiner Zugehörigkeit in Deutschland durch sein Jüdischsein von Geburt an in Frage gestellt ist, bleibt er auch in Frankreich ein Fremder. Trotz Bildungskarriere und Staatsbürgerschaft, dankbar, aber auch verpflichtet zur Dankbarkeit, frei und doch belastet von einer Bürde, die die ihn umgebenden Franzosen nicht kennen. Um den selbstverständlich Beheimateten Herz und Verstand zu öffnen für Gefühle und Erfahrungen, die Goldschmidt bis heute prägen und die so viele Neu-Exilierte mitten unter uns kennen, braucht es solche Bücher wie »Vom Nachexil«, durch die wir lesend Anteil nehmen können.
Georges-Arthur Goldschmidt: »Vom Nachexil«. Wallstein, 88 Seiten, 18 Euro
FAS Nr. 12, 22. März 2020, Feuilleton Seite 38