Verbannung
Es gibt Bücher, und es gibt Bücher, die wie Nahrung sind. Zu Letzteren gehört Natalia Ginzburgs Sammlung kurzer Texte mit dem Titel »Die kleinen Tugenden«, die jetzt bei Wagenbach neu aufgelegt wurde (...). In Zeiten, in denen Grundsätzliches auf dem Spiel steht, kehrt man zu diesen Texten zurück, um Halt und eine Haltung zu finden. »Winter in den Abbruzzen« heißt einer der Texte, er ist nur wenige Seiten lang, beschreibt den letzten Winter, den Natalia Ginzburg zusammen mit ihrem Mann Leone, einem Antifaschisten, und den gemeinsamen kleinen Kindern in der Verbannung verbracht hat. Im Sommer darauf, im Juli 1943, ging Leone in das von den Deutschen besetzte Rom, wurde von der Gestapo verhaftet und starb nach schwerer Folter am 5. Februar 1944. Ginzburg schreibt in Rom diesen kleinen Text, in dem sie zu begreifen versucht, dass ihrem Mann, dass ihr und ihren Kindern das passiert ist. Gerade gingen sie doch noch Orangen bei Girò kaufen und im Schnee spazieren. Ginzburg vermeidet alle großen Worte, ihr Text ist nüchtern, aber in ihm liegt eine starke Zartheit, große Zärtlichkeit.
Natalia Ginzburg: »Die kleinen Tugenden«. Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Wagenbach, 160 Seiten, 19 Euro
FAS Nr. 17, 26. April 2020, Feuilleton Seite 38