Für den Tisch
Manchmal reicht ein Buch für ein ganzes Jahr. Wenn man es genau liest und all seinen Anregungen und Abschweifungen, den vielen in ihm verdichtet gespeicherten Geschichten Aufmerksamkeit schenkt, sie in sich wirken lässt, mit ihnen zu neuen Gedanken, neuen Taten, vielleicht sogar einem neuen Sein aufbricht, wird man auf eine Weise beschenkt, die mit nichts zu vergleichen ist. Jonathan Droris »In 80 Pflanzen um die Welt« ist so ein Buch. Geschrieben hat es ein Kenner der Pflanzenwelt – Drori ist Botaniker und war neun Jahre lang Kurator der Royal Botanic Gardens im Londoner Stadtteil Kew, dem, wie er schreibt, vielleicht artenreichsten Flecken der Erde. Zugleich ist er aber ein an Geschichte und Kultur Interessierter und außerdem sehr unterhaltsamer Vermittler von Wissen. Als langjähriger Mitarbeiter der BBC betreute Drori mehr als fünfzig Wissenschaftssendungen und -serien. Kein Wunder, dass er seine achtzig ausgewählten Pflanzen gekonnt in Szene zu setzen weiß.
Angelehnt an die berühmte Reise des Phileas Fogg in Jules Vernes Roman »Reise um die Welt in 80 Tagen«, geht es von England, Schottland, Irland aus in Richtung Osten. Den Auftakt macht Drori mit der Großen Brennnessel, Urtica dioica, einer Pflanze, die wegen ihres überreichen Vorhandenseins gern unterschätzt wird – jedenfalls so lange, bis man mit ihr in Berührung kommt. Dabei hat sie so viel mehr zu bieten als schmerzende Blasen auf der Haut zu hinterlassen: Aus ihren langen, zähen Fasern lässt sich Stoff herstellen, die jungen Frühlingstriebe enthalten viele Vitamine und Eisen und sind nahrhafter als Spinat. Mehr als dreißig Falterarten bietet die Brennnessel Unterschlupf, sind sie, dank der brennenden Haare an den Blattunterseiten, doch sicher vor Fressfeinden.
Da die Brennnessel wirklich fast überall zu finden ist, ließe sich mit ihr auch leicht beginnen, wozu Drori seine Leserinnen und Leser am Ende des Buches auffordert: Sie mögen, so wünscht er sich, eine Pflanze auswählen und sie zwanzig Minuten genau betrachten, dabei Form, Farbe, Textur, Duft von Blättern und Blüten genauestens aufnehmen, mit allen Details, Härchen, Insekten und deren Eiern, mit Schad- und Fraßstellen und Verfärbungen. Durch das genaue Betrachten entlang der gewachsenen pflanzlichen Strukturen bekommt man allmählich Antworten auf die Fragen, die man sich, schreibt Drori, beim Studium der Pflanze stellen soll, nämlich: Was? Wie? Und vor allem: Warum? Pflanzen sind raffinierte lebende Apparaturen, wachsende Wunderwerke, die auf verschiedenste Weisen versuchen, andere Wesen anzulocken, um sich zu vermehren. Mit Düften, Leuchtapparaten, Blättern, Früchten, die für Tiere und Menschen Nahrung, Obdach und Baumaterial sind. Manche, wie der Aronstab, den Drori mit einer fasziniert-gruseligen Beschreibung ehrt, gehen dabei so eigene, eigenartige Wege, dass man kaum glauben kann, was man liest. Die Vielfalt der Formen und Farben, die Drori ausgewählt und die die französische Illustratorin Lucille Clerc in feinen, detailreichen, collageartigen Zeichungen wiedergegeben hat, ist beeindruckend: ein Heer von Außerirdischen, mitten unter uns.
Jonathan Drori / Lucille Clerc (Ill.): »In 80 Pflanzen um die Welt«. Aus dem Englischen von Bettina Eschenhagen. Laurence King Verlag 2021, 216 Seiten, 24 Euro
FAS Nr. 2, 16. Januar 2022, Reise Seite 48