Erzählzeitkollaps
Erdzeit und Menschenzeit bewegen sich in sehr verschiedenen Dimensionen. Ein Problem, um Dynamik, Ausmaß und Bedeutung von Klimaerwärmung, Artensterben, Ressourcenverbrauch zu verstehen und ihnen angemessen zu begegnen, ist, dass Letztere keine plötzlichen, punktuellen Ereignisse sind, sondern »langsame Katastrophen« miteinander verkoppelter Systeme, deren Extrema sich gegenseitig verstärken, die nicht mehr linear erfasst werden können und sich daher menschlichem intuitivem Begreifen entziehen. Das führt dazu, dass wir die Folgen konkreten Handelns wie Nichthandelns kaum abschätzen können, und auf die Überforderung mit unangemessener Passivität reagieren: Wir verdrängen, werden apathisch oder depressiv. Der Schweizer Kulturwissenschaftler Boris Previšić fasst in seinem Essay »Zeitkollaps – Handeln angesichts des Planetaren« nicht nur die wichtigsten Fakten zu den gegenwärtigen Veränderungen in Klima, Atmosphäre, Tier- und Pflanzenwelt gut lesbar zusammen, sondern schlägt auch einen Bogen vom Klimadiskurs zu der unser Denken stark beeinflussenden europäischen Literatur. Diese habe seit dem Beginn der Moderne um 1800 zu einer enormen Einengung von Erzählzeit und -raum geführt und einen Erzähler beziehungsweise Protagonisten bevorzugt, der aus subjektiver Sicht auf und in eine geo- und biosphärisch stabile Welt schaut und dabei zumeist hochgradig introspektiv vorgeht. Diese unser gesamtes Denken, inneres Erzählen bestimmende psychologisierende Erzählweise, »Handlungen aus der jeweils individualisierten Innensicht zu legitimieren« und die Handlungsmacht und Eigenverantwortung des Einzelnen zu bevorzugen, führe, so Previšić’ These, dazu, dass uns keine Narrative zur Verfügung stünden, die das, was seit ein paar hundert Jahren mit und in der Welt geschieht, wiedergeben könnten. Die Klimakrise, so lässt sich kurzschließend mit Previšić schlussfolgern, ist also auch eine Erzählkrise.
Boris Previšić: »Zeitkollaps. Handeln angesichts des Planetaren«. Mandelbaum, 212 Seiten, 22 Euro
FAS Nr. 46, 19. November 2023, Feuilleton Seite 38