Andere haben Großeltern
In den frühen Morgenstunden des 16. Juli 1942 werden im von den Deutschen besetzten Paris 8.160 jüdische Männer, Frauen und Kinder aus ihren Wohnungen geholt und in das zum Sammellager umfunktionierte Wintervelodrom verschleppt. Eins der Kinder, das der später als Rafle du Vél’ d’Hiv’ bezeichneten Razzia zum Opfer fiel, war die damals zehnjährige Rachel Psankiewicz, deren Eltern in den 1920er Jahren von Polen nach Paris emigriert waren und sich dort eine bescheidene Existenz aufgebaut hatten. Mit Beginn des Krieges wird der Vater, dem es noch immer nicht gelungen war, die französische Staatsbürgerschaft zu erwerben, erst mobilisiert, dann, nach der Okkupation durch die Deutschen, interniert. Die Mutter bleibt mit der kleinen Rachel und deren fünf Jahre älterer Schwester zurück, versucht, wie auch Großeltern, Tanten, Onkel und die Lehrerinnen in der Schule, den Kindern trotz aller Ängste und Schwierigkeiten Schutz, Liebe und Geborgenheit zu geben. »Diese tiefe und vielfältige Liebe hat mich gerettet«, schreibt Rachel Psankiewicz, die jetzt schon viele Jahrzehnte Jedinak heißt, in ihrer autobiografischen Erzählung »Wir waren nur Kinder«, in der sie ihre Kindheit, die politischen Hintergründe von damals und ihre heutige Situation als Überlebende und Erinnernde zu einem Text verbindet, der einem beim Lesen die Tränen in die Augen treibt. Ihrer Schwester und ihr selbst gelingt die Flucht aus dem Velodrom, allerdings ohne die Mutter – in wenigen Augenblicken müssen sie sich von ihr verabschieden, ohne zu wissen, ob sie sie je wiedersehen werden. Sie leben illegal, mit Onkel und Tante versteckt, stehlen Essen, in beständiger Angst vor Denunzianten und Kollaborateuren. Als sie erfahren, dass ihre Mutter in einem Lager in Drancy interniert ist, fahren sie dorthin, um sie ein letztes Mal zu sehen. Sie laufen den Zaun ab, finden sie nicht, erst beim zweiten Besuch gelingt es mit Hilfe eines Fernglases. Bei einem weiteren Besuch ist es schon zu spät: Auf der Straße kommen ihnen Busse entgegen, darin eingepfercht die Internierten, auch Rachels Mutter. Am 29. Juli wird sie nach Auschwitz deportiert. Sie wird nicht zurückkehren, ebenso wenig wie der Vater und fünfzehn andere Mitglieder der Familie. Sehr lange hat Rachel Jedinek gebraucht, um die Orte ihrer Kindheit wieder aufsuchen, ihre Erinnerungen zulassen, über das Erlittene sprechen zu können. Doch als eines Tages ihre eigene Tochter aus der Vorschule nach Hause kam und rief: »Ihr seid gemein, alle beide! Die anderen haben Großeltern und ich nicht!«, wusste sie, sie muss das Schweigen brechen. Zuerst ihrem Kind gegenüber, und dann in der Öffentlichkeit. Das tut sie bis heute – mit fast 91 Jahren.
Rachel Jedinak: »Wir waren nur Kinder. Ein Leben, um es zu leben, ein Leben, um sich zu erinnern«. Eine Erzählung. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Rebecca Lyson. Frankfurter Verlagsanstalt, 96 Seiten, 18 Euro
FAS Nr. 5, 2. Februar 2025, Feuilleton Seite 38