Die Fahrradinsel
Eine Insel, auf der alle Fahrrad fahren und wo es keine Autos gibt: Zoé ist von ihrer Sommerferienidylle begeistert. Gemeinsam mit ihrer Cousine Louise, die auf der Insel wohnt, erkundet sie die neue Umgebung und genießt die bislang ungekannte Unabhängigkeit von den Erwachsenen, die die gefahrlos rollende Mobilität ihr schenkt. Frei fühlt sie sich und autark, wenn sie so unbeaufsichtigt und ohne die sonst üblichen Ermahnungen und Verbote über die Insel saust. Bei jedem Wetter, selbst bei Regen oder Sturm – dann stemmt sie sich gegen den Wind und weicht den Pfützen auf den unasphaltierten Wegen aus. Cousine Louise ist immer an ihrer Seite, zeigt ihr Kunststücke auf dem Rad und auch, wie man einen platten Reifen flickt. Ein Riesenstück gewachsen, selbstständiger und mutiger kehrt Zoé nach den Ferien in die Stadt zurück. Und darf dort nicht mehr allein Rad fahren – denn das, so erklären die Eltern, sei viel zu gefährlich! Ein klassischer Fall von Schuldumkehr: Schließlich ist nicht Zoé auf ihrem Rad Quelle der Gefahr, sondern die Autofahrer, die keine Rücksicht nehmen. Doch Zoé lässt sich nicht mehr einsperren, sie bricht aus, fährt allein zurück zur geliebten Sommerinsel, wo sie vom Freisein gekostet hat. Und erlebt ein Wunder. Denn was in Ariane Pinels Kinderbuch »Sommer auf der Fahrradinsel« auf Zoés Ausbruchsversuch folgt, ist ein Traum, den nicht nur Kinder hegen: dass die Autofahrer einsehen, wie schädlich ihr Verhalten ist und wie viel Leben es erstickt: nicht nur das der Pflanzen, Tiere, Kinder, sondern auch ihr eigenes, sogenanntes vernünftiges Erwachsenenleben. Und dass sie ihrer Einsicht Taten folgen lassen, indem sie die alles bestimmende Autowelt abschaffen. Die Argumente, die Pinel den kleinen und großen Lesern mitgibt, und die Alternativen, die sie ihnen aufzeigt, sind leider selbst für Vierjährige zu simpel. Das Auto ist nicht nur ein Werkzeug unserer Mobilität, sondern auch unserer Bequemlichkeit, und unser Verhältnis zu ihm weit ambivalenter, als hier vorgeführt wird. Etwas mehr dialektisches Denken kann Vierjährigen schon zugemutet werden, die sicher gern alle Straßen mit ihren Lauf- und Fahrrädern erobern würden, aber ihr Rad samt Kitarucksack spätestens nach zwei Kilometern auf die Seite werfen und einen Wutanfall bekommen, wenn niemand sie sofort nach Hause tragen will. Dass es neben dem Rad noch etwas anderes braucht, um größere Entfernungen, zumal mit Einkäufen, großen Musikinstrumenten, Umzugsgut oder schwerem Gepäck, zurückzulegen, wird von Pinel nicht einmal erwähnt. Schade, denn so bleiben der Abschied vom motorisierten Individualverkehr, wie es korrekt heißen müsste, und die anvisierte Verkehrswende nur ein zwar hübsch anzusehender, aber auch schnell beiseitegelegter Bilderbuchtraum.
Ariane Pinel: »Sommer auf der Fahrradinsel«. Aus dem Französischen von Nele Deutschmann. Mairisch, 40 Seiten, 16 Euro, ab vier Jahren
FAS Nr. 39, 29. September 2024, Reise Seite 42