Drei Zeitenwenden
Wer Spanien nur aus touristischer Perspektive kennt – also überfüllte Strände, Barcelonas Innenstadt oder die Kathedralen und Museen Madrids und Salamancas –, mag erstaunt oder sogar geschockt sein, wenn er eines Tages in einem der Hochgeschwindigkeitszüge sitzt und durch die im Sommer völlig ausgedörrte, menschenleere Meseta fährt: Das weitläufige Hochplateau im Zentrum des Landes gleicht, verstärkt durch den Klimawandel, immer mehr der algerischen Wüste. Es ist ein den meisten völlig unbekanntes Spanien.
Spanien hat eine der höchsten Raten urbaner Bevölkerung in Europa – gut achtzig Prozent der knapp 47,5 Millionen Einwohner leben in Städten, vor allem im Ballungsraum Madrid und entlang der Küsten. Nach der Ukraine und Frankreich ist es das flächenmäßig drittgrößte Land Europas. Das bedeutet, dass es zu großen Teilen nicht dichter besiedelt ist als Finnland. Auf mehr als der Hälfte des spanischen Territoriums leben nur sechzehn Prozent der Gesamtbevölkerung. Manche sprechen von diesen Landstrichen als dem »spanischen Sibirien«, und in früheren Jahrhunderten wurden die abgelegenen Gegenden auch tatsächlich zur Verbannung politisch Missliebiger und gegen die Macht aufbegehrender Intellektueller genutzt.
Über dieses »leere« Spanien hat Sergio del Molino einen langen, kurvenreichen, weit in Geschichte, Kultur und Literatur des Landes zurückreichenden Essay geschrieben, der, als er in Spanien 2016 erschien, für Furore sorgte. Das Buch verkaufte sich hunderttausendfach, wurde im Parlament diskutiert, und sein Titel, »Espana vacía« – »Leeres Spanien«, wurde zum feststehenden Begriff. Dabei war es nicht so, dass die karge, entvölkerte Leere des Landes zuvor nicht wahrgenommen worden war – aber man hatte sie geflissentlich übersehen. Die Schnellzugverbindungen ließen die Hunderte von Kilometern durch die im Sommer glutheiße, im Winter eiskalte Hochebene um Madrid zusammenschrumpfen, und die Straßen durch die kargen, wilden Gebirge wurden kaum mehr befahren, so dass bis auf die wenigen Verbliebenen niemand die sterbenden oder schon ausgestorbenen Dörfer sah.
Del Molino, der als Journalist für zahlreiche Reportagen dieses spanische Hinterland bereist und darüber geschrieben hat, liefert mit seinem Buch allerdings kein aktivistisches Pamphlet ab, sondern versucht Antworten darauf zu geben, weshalb die urbane spanische Öffentlichkeit sich so wenig für den ländlichen Raum, seine Besonderheiten, Probleme und seinen kargen Reichtum interessiert. Große Teile Spaniens seien einfach vergessen, schreibt er. Aber man habe sie auch vergessen wollen, begegnete ihrer Rückständigkeit nicht erst seit dem großen Exodus während der Franco-Zeit, in der die Modernisierung und Industrialisierung auf dem Land rücksichtslos gegen Natur und Menschen vorangetrieben wurde, mit Ignoranz und Verachtung. Vielmehr sei die Arroganz gegenüber dem Land eine jahrhundertealte Tradition, der man schon in Cervantes »Don Quijote« begegne.
Nun brachte del Molinos Buch die vergessenen Regionen und das aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängte Leben ihrer wenigen verbliebenen Bewohner nicht nur wieder in Erinnerung, sondern es versucht auch, eine objektivere, mythenkritische Erzählung. Denn, so del Molinos immer wieder vorgetragene und mit vielen Beispielen vor allem aus der Literatur belegte These: ohne das bäuerliche Land mit seinem jahreszeitlichen Leben verliert Spanien die Ressource, aus der sich die kulturelle Identität und Mentalität der Spanier über viele Jahrhunderte gespeist hat, auf der letztlich Spanien als Nation ruht. Und diese Identität, die die Voraussetzung eines »vernünftigen Patriotismus« sei, gelte es zu bewahren und für die Zukunft fruchtbar zu machen. Keine leichte Aufgabe, weder in Spanien noch anderswo in Europa.
Sergio del Molino: »Leeres Spanien. Reise in ein Land, das es nie gab«. Aus dem Spanischen von Peter Kutzen. Wagenbach tb 2023, 304 Seiten, 16 Euro
FAS Nr. 40, 1. Oktober 2023, Reise Seite 42