Lektüre

17.04.2024

Lektüre17. April

Wenn das Kompostgehege voll war, wurde es ein Podest. Von unserem Hintergarten konnte ich daraufklettern und dann in das unkrautige Feld jenseits der Häuser springen. Wer auch immer die Eigentümer waren, sie schienen kein Interesse an dem Stück Land zu haben, obwohl es noch nicht lange so aufgelassen liegen konnte, denn Bäume waren noch keine dort gewachsen, nur hohe Gräser, die im Winter zu Stroh abstarben und im Frühling grün, gelb und lila sprossen und ihre mit Samen angefüllten Häupter im Wind wiegten. Weidenröschen wuchsen mir über den Kopf und gaben Flaum von sich, der vom Feld weg ins Dorf und in den Wald schwebte. Das Feld wurde nicht genutzt, weil der Boden mit Seggen und hochstehenden Feuchtgräsern durchwachsen war. Nicht mal die Pendler führten dort ihre Hunde aus. Es war eine Wildnis, die Kindern und Tieren freistand. Unten am Ansatz der Gräser lagen glatt geformte Tunnel, wo sich die Stängel um kompakte pelzige Körper schlossen. Von oben sah man diese Tunnel nicht. Wenn ich durchs Gras kroch, konnte ich hindurchschauen, aber ich hatte nicht die passende Größe, um hindurchzukriechen, und tagsüber benutzten auch die Tiere sie nicht. Einmal fand ich ein verheddertes Büschel Gräser auf einer freien Stelle, und dabei einen grauen abgetrennten Flügel, kein Blut. Das einzige Zeichen eines verhängnisvollen Dramas in der Nacht.

Wenn ich vom Feld zurückkam und über die Paletten in unseren Garten stieg, hatten sich Samenkörner und Kletten an meine Kleidung geheftet und in meinem wirren Haar verfangen, manchmal gerieten sie mir sogar in den Mund. Das Unkraut hakte sich an jedem beweglichen Körper fest. Ich war bestimmt nicht das einzige Tier, dessen Haut voll Flaum und Halmen war, die Pflanzen nahmen jede Gelegenheit wahr, um ihre eigenen Reisen anzutreten. Die Samen fielen leicht ab, wenn sie das Feld verlassen hatten. Viele verschwanden tief in den Gängen von Tierbauten, weit weg vom Tageslicht, andere landeten auf dem Betonboden des Hofs, wenn ich sie achtlos wegschnipste, wieder andere wanderten mit den Haaren, die in der Bürste blieben, in den Müll. Nur ein oder zwei Körner hatten vielleicht irgendwann eine Lebensgeschichte, die sie erzählen konnten, wenn sie aus dem Pelz eines Fuches auf ein stilles Fleckchen am Waldrand fielen, wo sie wachsen konnten, oder aus meinen Haaren auf die Müllkippe gerieten, wenn die Mülltüte aufplatzte, in der sie sich befanden.

[...]

Ich mochte Texas und war glücklich dort. Was mich unter anderem beeindruckte, war die verstörende und ungewöhnliche Art und Weise, wie Texaner zur Verantwortung für ihr destruktives Verhalten standen. 
Die Straßen von einer Stadt zur anderen waren gesäumt von Viehzuchten, endlose Strecken zertrampelter Erde und Kuhscheiße, nahtlos gingen die Betriebe ineinander über bis an den Horizont, der Muff nach Dung drang ins Innere des Autos, Tausende und Abertausende weißbraun gefleckter Rinder standen reglos am Zaun zu der Schnellstraße, die über die Windschutzscheibe davonfloss. Ich fuhr, und die Rinderherden hörten nicht auf. Minuten vergingen. Immer noch und immer weiter standen die Viehherden hinter dem Zaun zur Straße, und irgendwann war ich nicht mehr in der Lage, die Körper als lebende Individuen wahrzunehmen. Die Hitze glühte, doch die Erde unter ihren Hufen wurde nie trocken oder rissig, sie standen etwa knietief in feuchter Scheiße, die sich hinter ihnen erstreckte, so weit das Auge reichte. Wochen später lernte ich auf einem kleinen Empfang, zu dem ich von der Arbeit aus eingeladen war, einen Rancher kennen. Ich sprach ihn auf die Massen von Rindern an und fragte ihn, wie viele er persönlich besaß. Er antwortete mir nicht mit einer Angabe zu der Stückzahl Vieh, das er besaß, sondern mit einer in Tonnen berechneten Menge an lebendigem Fleisch, das er auf seiner Ranch hatte. In Texas unterhielt ich mich gern mit Leuten, die sich ganz selbstzufrieden als brutale und selbstsüchtige Menschen verstanden. Sie brachten die Temperatur noch weiter rauf und bekannten sich dazu; sie hatten gern Konkurrenz und liebten ihre Waffen, sie glaubten an Krieg als den Weg zum Frieden, und diese Fähigkeit, sich selbst zu akzeptieren, erschien mir eindeutig gesund.


Daisy Hildyard: Notstand

 

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