[Flüchtlinge. Bahnhof]
1
der lange Heimweg zu keiner Heimat zurück
verlegt Atemschienen durch den Lwiwer Bahnhof –
Menschen mit Totengeischtern betrachten lebendige Hüllen
wie Schneemänner vom letzten Jahr die ersten Blumen des Krieges
wie trockener Leim stehen Tränen in ihren Augen –
auszureißen ist diese Erfahrung nur zusammen mit den Augen
um statt ihrer, auf den zerfurchten Pfaden der Hände gewachsen
die Schwarzapfelbäume der Zeit einzupflanzen
Regen empfängt die Vertriebenen mit Postkarten aus Familienalben
in denen der Krieg auf allen Stühlen gleichzeitig sitzt
und den Todesvogel mit durchschossenem Mund angrinst
wie über einen Witz, den kein Anderer zu erzählen sich traut
viele Male betrachtet die Welt die Bildunterschriften
Mariupol Hostomel Irpin Borodjanka Tschernihiw Butscha
wie ein hohes Feuer in der Luft steht diese kyrillische Musik
im Schlammwasser der Scham, gefroren unter den Nägeln, still
2
einen Schritt noch, Tod, und wir verspeisen dich zu Abend
unsere Leben, die rostigen Dosen, sind für deine Zähne nichts
einen Schritt noch, Tod, und du bleibst auf diesem Tisch zurück
gesprungenes Tablett, mit dem Haar freier Menschen überzogen
3
die Leute laufen durch Pfützen, weil es keine anderen Wege hier gibt
außer die eigene Niederlage zu empfangen wie Brot am Bahnhof
wo Freiwillige die Schlüssel zu kommenden Leben hinterlegen
falls die Kraft, der Liebe in die Augen zu schauen, uns reicht
4
:der Krieg – die große Niederlage der Kultur:
flüstern die Wörter auf allen Buchumschlägen
doch rostiges Verbrechergras überwuchert die Münder –
und in den Backen sammelt Schweigen von Bernstein sein Heer
5
wir schlagen Beweise wie Nägel in die Hände und Füße der Kinder
wie ein Gespräch in der Nacht, an das sich später niemand erinnert
schau genau hin
die Asche dieses Papiers
hieß einmal Mytenka
10. April 2022
Iya Kiva