Wenn es unbewusste Erinnerungen gibt und das Unbewusste, wie Sigmund Freud betont, zeitlos ist, so heißt das für Erinnerungen, dass sie Teil der Gegenwart sind, ohne dass das Subjekt davon weiß. Deshalb arbeitet Psychoanalyse in der Gegenwart, die sie als Übertragung versteht. In der Beziehung zum anderen, z. B. dem Therapeuten, stellt Unbewusstes sich dar. In der geteilten und affektiv bedeutsamen Gegenwart wird die verschüttete, unbewusst gebliebene Vergangenheit scheiternder Begegnungen aus der Gegenwart der erlebten intersubjektiven Beziehung gleichsam herausgetrieben. Vergangenes wird also nicht allein bearbeitet, sondern allererst erzeugt. Dann kann das eigene Verhalten und Fühlen mit Abstand betrachtet, neu bewertet und vielleicht verändert werden. Wenn das Vergangene sich nicht immer wiederholen muss, sondern wirklich vergangen sein darf, ist es möglich, sich in der eigenen Geschichte zu verstehen.
Erinnerungsarbeit befreit von den Erinnerungen. Zugleich aber setzt sie Erinnerungen frei. Als »produktives Gedächtnis« (Th. W. Adorno) erlaubt sie dem Vergangenen, sich produktiv zu entfalten. Produktives Gedächtnis treibt nicht nur das hervor, was in der Vergangenheit geschehen ist, sondern auch, was im Vergangenen uneingelöst blieb, erlaubt es, Wünsche, verschüttete Hoffnungen und Möglichkeitshorizonte freizulegen, die bislang auf der Strecke geblieben waren.
Formen des unabgegoltenen Vergangenen
Wer verdrängt, hat zu wenig (bewusstes) Gedächtnis. Was aber verdrängt wird, vergeht gleichwohl nicht und wirkt fort. Nicht das real Erfahrene zwingt das Vergangene in die Gegenwart hinein, sondern insbesondere ein Begehren, das nicht in die bewusste Gedankenwelt zugelassen wurde und dadurch uneingelöst blieb. Wenn auch verdrängt, so bleibt es doch eingeschrieben. So kann es Leid und Krankheit erzeugen, enthält aber auch ein utopisches Moment: Das Unabgegoltene steht noch aus, wird erwartet, ersehnt und mit großer Beharrlichkeit, wenn auch ohne eine bewusste Intention, verfolgt.
Wer von traumatischen Erfahrungen jäh heimgesucht wird, kann sich von ihnen nicht lösen. Im Flashback blitzen Fragmente auf, der Blitz des Geschehenen erleuchtet die Gegenwart immer neu und grell. In der Wiederkehr des Schreckens und Entsetzens steht die Zeit still. Das traumatische Widerfahrniss lässt sich nicht erzählen, sucht aber nach einer Einbindung. Nicht zu wenig, sondern zu viel Gedächtnis verhindert, dass das Vergangene abgearbeitet und abgegolten wird. Es harrt in gewisser Weise der Erlösung durch repräsentative Einbindung.
Wessen unabgegoltene Vergangenheit?
Nicht nur die eigene Vergangenheit schreibt sich ein, sondern auch die der Vorfahren, insbesondere wenn diese von Extremtraumatisierungen erschüttert worden ist. Schuld und Schicksal werden übernommen, das Trauma der Eltern schreibt die Entwicklung der Kinder vor, etwa so, dass das Kind die Last der Vergangenheit korrigieren soll, indem es imaginärer Ersatz etwa eines getöteten Familienmitglieds wird oder durch besondere Leistungen den zerstörten Lebensstolz der Familie wieder aufrichtet. Die Kinder verinnerlichen den unbewussten, oft genug ganz sprachlos transportierten Auftrag der Eltern und handeln aus ihm heraus, weil er ja zu ihrem eigenen geworden ist. Dennoch bleiben diese Aufträge Fremdkörper, im eigenen Selbst vergrabene Fremdanteile oder Krypten, schwer zugängliche Orte transgenerationaler Archive.
Orte der Einschreibung
Unabgegoltene Vergangenheit schreibt sich in die Archive des Unbewussten ein, von dort her bestimmt sie unbemerkt die Gegenwart. Zu den Archiven zählen u.a. das Symptom eines seelischen Konflikts, der Traum, die Fehlleistung. Auch der Körper kann als Ort einer Einschreibung fungieren, die nirgendwo anders erscheint. Die Konversionsstörung in der Hysterie ist das klassische Beispiel. Körperliche Symptome können als Symbol oder Ikon fungieren und einen inhaltlichen Zusammenhang mit der unabgegoltenen Erfahrung darstellen, der freilich nur nach und nach und mit viel Aufwand offengelegt werden kann. In den Körper sind die unabgegoltenen Beziehungswünsche eingeschrieben, ohne dass sie der Selbsterfahrung und dem eigenen Bewusstsein zugänglich wären. Der Körper trägt die Gravuren ungelöster Konflikte, wird zum Träger einer geheimen Botschaft innerhalb der Beziehung.