Lektüre

15.11.2025

Lektüre15. November

Der wahre Held, das wahre Thema, die Mitte der Ilias ist die Gewalt. Die Gewalt, die von Menschen ausgeübt wird, die Gewalt, welche die Menschen unterwirft, die Gewalt, vor der das Fleisch der Menschen zurückschreckt. Die menschliche Seele erscheint hier unaufhörlich verändert durch ihr Verhältnis zur Gewalt, wird fortgerissen, geblen­det durch die Gewalt, die sie zu beherrschen glaubt, wird gebeugt unter der bezwingenden Gewalt, wel­che sie erleidet. Wer erträumt hatte, die Gewalt sei, dank des Fortschritts, nunmehr Teil der Vergan­genheit, erblickte in diesem Gedicht vielleicht ein bloßes Dokument; wer aber zu erkennen vermag, dass die Gewalt, heute wie einst, die Mitte ist von jeder menschlichen Geschichte, der findet in ihr den schönsten, den reinsten Spiegel.

Die Gewalt ist das, was aus jedem, der ihr unter­worfen ist, ein Ding macht. Geht ihre Anwendung ins Extrem, so macht sie aus dem Menschen im wortwörtlichen Sinn ein Ding, denn sie macht aus ihm eine Leiche. Da war jemand, und einen Augen­ blick später ist da niemand. Dieses Bild stellt uns die Ilias unermüdlich vor Augen:

(...)

Die Gewalt, die tötet, ist eine summarische, grobe Form der Gewalt. Um wie vieles verschiedenartiger im Vorgehen, um wie vieles überraschender in den Wirkungen ist die andere Gewalt, jene, die nicht tötet; das heißt, die noch nicht tötet. Sie wird ganz sicher töten, oder vielleicht töten, oder schwebt auch nur über dem Menschen, den sie im nächs­ten Augenblick töten kann; in jedem Fall macht sie den Menschen zu Stein. Aus der Macht, einen Men­schen in ein Ding zu verwandeln, indem man ihn sterben lässt, entspringt eine andere Macht, noch viel wunderbarer, nämlich die, ein Ding zu machen aus einem Menschen, der weiterlebt. Er ist lebendig, hat eine Seele; er ist trotzdem ein Ding. Hochselt­sames Wesen, ein Ding mit einer Seele; seltsamer Zustand für die Seele. Wer kann sagen, was es sie in jedem Augenblick kostet sich anzupassen, zu win­den und zu verbiegen? Sie ist nicht geschaffen, in einem Ding zu wohnen; wird sie gezwungen, gibt es nichts in ihr, was frei wäre vom Erleiden der Gewalt.


Simone Weil: Die Ilias, oder das Gedicht von der Gewalt

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