(Goethe) ist der Mensch, in dem zum erstenmal das Bewußtsein dämmert, daß das menschliche Leben aus seinem eigenen Problem besteht, daß seine Substanz nichts Seiendes ist – wie die Substanz der griechischen Philosophie und, auf feinere, aber letzten Endes gleiche Art, die Substanz des modernen Idealismus –, sondern etwas, das sich selber machen muß, das daher nicht ein Ding ist, sondern durch und durch problematisch und Aufgabe. Darum sehen wir ihn unablässig über sein eigenes Leben gebeugt. Es ist ebenso trivial, diese Besessenheit der Selbstsucht zuzuschreiben wie sie künstlerisch zu deuten und uns einen Goethe hinzustellen, der seine eigene Statue schafft. Die Kunst, jede Kunst, ist sicherlich eine eine durchaus zu respektierende Erscheinung, aber sie ist oberflächlich und verantwortungslos neben dem furchtbaren Ernst des Lebens. Wir sollten daher besser nicht so leichthin von einer Kunst zu leben sprechen. Goethe beschäftigt sich unaufhörlich mit seinem eigenen Leben, weil das Leben Beschäftigung mit sich selbst ist. Weil er das ahnt, wird er zum ersten Bürger unserer Zeit, wenn Sie wollen, zum ersten Romantiker. Denn dies ist, literarhistorisch gesehen, das Charakteristikum der Romantik: die vorbegriffliche Entdeckung, daß das Leben nicht eine Realität ist, die auf mehr oder weniger zahlreiche Probleme stößt, sondern daß es ausschließlich aus seinem eigenen Problem besteht.
(Um einen Goethe von innen bittend)
José Ortega y Gasset: Ästhetik in der Straßenbahn
