Die serbische Provinz Vojvodina

21.06.2009

Die serbische Provinz VojvodinaEin Reisefeuilleton

Warten auf Europa
Zwischen Anschluss und Ausschluss: Die serbische Provinz Vojvodina

Zehn, elf, zwölf. Der Güterzug rumpelt über die Brücke. Fünfzehn, sechzehn. Tankwagen, Schüttgutwagen. Die Brücke schwingt, vibriert. Neunzehn, zwanzig, einundzwanzig. Unter dem schmalen, schnurgeraden Metallband neben den Schienen, hinter dem Geländer, von dem die hellblaue Rostschutzfarbe abblättert, strömt das Wasser der Donau, die hier, am Kilometer 1254, nicht blau ist, sondern algengrün. Modriger Geruch mischt sich in den leichten Sommerwind, Treibgut schwimmt vorüber, bleibt an den Brückenpfeilern hängen, reißt sich wieder los. Lange Kähne mit Kiesbergen, Holzstapeln, Fässern ziehen träge stromaufwärts Richtung Vukovar, Budapest, Wien, schießen mit der Strömung flussab Richtung Belgrad. Ein Personenzug quietscht vorbei, nur acht, neun graffitibesprühte Waggons, die Fenster heruntergelassen, gleichgültige, erwartungsfrohe Gesichter darin, winkende Hände.

Vorsichtig tastend fahren die Züge von der einen Seite der Donau auf die andere, als trauten sie den Brückenpfeilern und Stahlträgern nicht. Sie sind nur ein Provisorium wie die ganze Brücke, die aus dem Donauschlamm ragt. Im April 1999 wurde die alte Eisenbahnbrücke, der Žeželjev Most, von der Nato bombardiert, wie auch die anderen beiden Brücken in Novi Sad. Die Stadt war sechs Jahre lang von Belgrad und Ostserbien aus nur über eine Pontonbrücke zu erreichen, die den für die Wirtschaft Serbiens wie des ganzen Donauraums so wichtigen Schiffsverkehr auch noch behinderte, als die in den Fluss gestürzten Brückentrümmer 2001 endlich beseitigt waren.

Abgeschnitten und isoliert wie damals Ostserbien und Belgrad fühlt sich jetzt das ganze Land, das, nur zwei Flugstunden von Berlin, für viele EU-Deutsche ferner zu liegen scheint als manches Ziel in Asien, Amerika oder Australien. Denn kaum war Serbien 1989 mit den anderen Balkanländern hinter dem Eisernen Vorhang aufgetaucht, verschwand es erneut hinter einer Mauer des Krieges und der Gewalt, die es für die meisten von uns zu einer terra abscondita, einem von bösen Geistern bewohnten Märchenland machte.

Tastend und vorsichtig, als wäre es gleichfalls nur provisorisch und anfällig für Störungen, ist auch das Leben hier, in der serbischen Provinz Vojvodina und ihrer 300.000 Einwohner zählenden Hauptstadt Novi Sad. Fast zehn Jahre nach Kriegsende spürt man vor allem die Widersprüche, das Hin und Her zwischen Altem und Neuem, Aufbruch und Stillstand, Trotz und Stolz.

Da sind die Angler, die den ganzen Tag auf den Steinen unterhalb der Kaimauern hocken, ihre Angeln auswerfen, warten, neu auswerfen, vor sich die Weite des Flusses, bis es dunkel wird. Da sind die Fahrten über das flache Land, durch Dörfer in der Südbatschka, wo man einem archaischen Leben begegnet, das einen an die Erzählungen der Großeltern erinnert, an die eigene Kindheit im Osten, Ferien in Polen und Ungarn, so dass die vermeintliche Reise ins Unbekannte ins Altvertraute führt. Mintgrün und altrosa gestrichene Häuser, von denen die Farbe blättert, Feuer, in denen Laub und Baumschnitt verbrennen und deren Rauch über die Wiesen zieht, vor den Toreinfahrten Lkw-Anhänger, in denen Melonen und Tomaten und Paprika hochaufgetürmt zum Verkauf stehen, Bänke vor den Häusern, eigentlich nur ein Brett, auf dem eine alte Frau mit schwarzem Kopftuch sitzt, einen Hund neben sich, und lächelnd grüßt, wenn man vorübergeht.

Man sollte sich hüten, dieses Leben zu romantisieren, es ist hart und zehrt an den Kräften. Aber es hat auch eine stolze Schönheit, die aus der Notwendigkeit, der Einfachheit erwächst. Vielleicht kann man diese Schönheit jedoch nur sehen, wenn man nicht dazugehört, wenn man der Kälte, dem Regen, der Hitze nicht ausgesetzt ist, wenn einen die Sorgen, wie es das nächste Jahr werden soll, nicht drücken. Vielleicht ist der Blick des Reisenden nostalgisch und daher, trotz Aufnahme der Realien, blind für die Realität.

Der Fotograf Frank Gaudlitz ist die Donau entlanggefahren, von ihrer Mündung bis zu ihrer Quelle, er hat Menschen, die er zufällig traf, porträtiert und sie nach ihren Wünschen gefragt. Daraus ist ein grandioser Band geworden, »Warten auf Europa«, eine Serie sensibel aufgenommener ost- und mitteleuropäischer Gesichter, die dem Betrachter mit Ernst und Würde begegnen und ihm das gegenwärtige Leben im Donauraum erfahrbar machen. Ein Leben, das für die meisten der Porträtierten ein Leben in der Ungewissheit, im Übergang, im Provisorium ist, das sie lieber heute als morgen verlassen würden. Ein Lehrer aus dem kroatischen Vukovar wird mit den Worten zitiert: »Ich hatte 15.000 Schüler ... Jetzt kann ich keinen einzigen mehr in der Stadt antreffen. Zum Abiturjubiläum melden sie sich per Handy.«

Denn was für den Reisenden einen großen Reiz hat, eine Gesellschaft im Umbruch zu erfahren und mit den Straßenseiten die Zeiten zu wechseln – von der kleinstädtisch-bäurischen Altstadt hinter der Marienkirche, die an das Novi Sad erinnert, von dem Aleksandar Tišma in seinen Romanen erzählt, gelangt man mit wenigen Schritten zu den herausgeputzten zweieinhalb Straßen der Fußgängerzone mit vollbesetzten Cafés, von dort über die Ringstraße zu den heruntergewohnten sozialistischen Plattenbauten und dann in die Glitzerwelt der Shopping Center mit Preisen auf westeuropäischem Niveau –, ist für viele der zurückhaltend-freundlichen Einwohner Novi Sads ein Grund, das Land zu verlassen.

Die meisten, mit denen man spricht, haben Angst, vergessen worden zu sein, vergessen von Westeuropa, das dem Land nach den Balkankriegen den Rücken kehrte, so dass es nun fast ein Jahrzehnt sich selbst überlassen blieb, und gemieden von den Nachbarn, den ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken, gegen die es Krieg führte und mit denen es bisher zu keiner offiziellen Aussöhnung kam. Aber auf die Phase einer trotzigen Einigelung, in der man den Urlaub zu Hause oder in Griechenland verbrachte, wo es während der Kriege große Sympathie für die Serben gab, statt wie früher nach Kroatien an die Küste oder nach Montenegro zu fahren, scheint nun vorbei. »Die Kommunikation mit den Nachbarn hat wieder begonnen«, sagt Alida Bremer, Kroatin mit zahlreichen guten Freunden in Belgrad, wo sie studiert hat. »Neugier, Interesse, alte Freundschaften, Sympathien für die sehr verwandte Kultur sind da.«

Und insbesondere die Jüngeren, gut Ausgebildeten wollen nicht länger auf Europa warten, sie lernen Englisch und ziehen Richtung Westen, um Geld zu verdienen, um ihre Familien zu unterstützen, um die Welt kennenzulernen, um ein besseres Leben zu haben. Und mit ihrer Neugier, ihrem Wunsch nach Teilhabe am westlichen Lebensstil, den Möglichkeiten, die er ihnen bietet, öffnen sie das Land, in dem das provisorische Leben zum Dauerzustand zu werden drohte, zum eigentlichen Leben, in dem man sich einrichtet und das man dadurch nur immer weiter perpetuiert.

Die Migranten werden das Land modernisieren, indem sie Geld schicken, indem sie zurückkommen und in ihrer Heimat investieren. Sie wollen, dass sich das Land aus der Isolation befreit und die Grenzen fallen. »Die Donau verbindet alle Länder, die an ihrem Ufer liegen. Mein Wunsch ist, dass alle Länder grenzenlos wären wie der Lauf der Donau«, sagt einer der jungen Angestellten in einem Café am Fluss und schaut gedankenverloren stromabwärts. Und seine Kollegin fügt hinzu: »Es sollen Arbeitsplkätze geschaffen werden, es soll normale Verdienstmöglichkeiten geben, und was die Menschen vorhaben, sollen sie auch umsetzen können.«

Der Aufbruchsgeist ist in Novi Sad bereits zu spüren – aber auch, dass die neue Entwicklung alte Gewohnheiten verschwinden lassen wird, dass der Zugewinn an Individualität und Wahlmöglichkeiten mit einem Verlust an Identität und Zugehörigkeit bezahlt werden muss. Das ist der Preis für das Wiederanknüpfen an die verlorene Nachbarschaft, die Rückkehr nach (West-)Europa. Wer das Land noch auf der Schwelle erleben will, der sollte sich jetzt auf den Weg machen. Es sind nur zwei Flugstunden von Berlin.

 

Anreise Novi Sad hat nur einen kleinen Flughafen, Anreise mit dem Flugzeug ist daher nur über Belgrad möglich, von dort gibt es auch Busse. Von Wien fährt man, über Budapest, mit Direktzügen in etwa neun Stunden nach Novi Sad.

Literatur Birgitta Gabriela Hannover: »Serbien entdecken. Unterwegs zu verborgenen Klöstern und Kunstschätzen«. Trescher-Verlag Berlin 2006, 470 Seiten, 19,95 Euro. Frank Gaudlitz: »Warten auf Europa / Waiting for Europe. Begegnungen an der Donau / Encounters along the Danube«. Mit Essays von Karl Schlögel, Jule Reuter, Günter Schödl. Deutsches Kulturforum östliches Europa. Potsdam 2006, 195 Seiten, 19,80 Euro. 

Weitere Informationen über Novi Sad unter www.gradnovisad.org.yu oder unter www.novisadtourism.org.yu

FAS Nr. 25, 21. Juni 2009, Reise Seite V6

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