Tiefsee
Unser Planet heißt Erde, dabei ist er zu fast drei Vierteln von Wasser bedeckt. Und obwohl der Schiffsverkehr täglich zunimmt, sind große Teile dieser Wassermassen bis heute unerforscht. Topographie, Meeresströmungen, Flora und Fauna und die aus ihnen gebildeten Nahrungsketten – all das liegt größtenteils nicht auf, sondern unter Wasser, in einem dem Menschen nur durch Hilfsmittel zugänglichen Element, das sich bis zu elf Kilometer abwärts erstreckt, und stellt durch seine Andersartigkeit ein Problem für die menschliche Empathie und Imagination dar. Wie fühlt es sich an, Tentakel mit Saugnäpfen zu haben und damit zu tasten, zu greifen und zu riechen wie der Oktopus? Zweitausend Meter tief zu tauchen wie der Pottwal und Laute auszustoßen, die 800 Kilometer weit zu hören sind, wie es der Blauwal kann? Oder wie der Albatros bis zu 800 Kilometer am Tag zu fliegen, 5,5 Millionen Kilometer in fünfzig Jahren, das ist 14 Mal die Strecke Erde–Mond! Oder in der ewig dunklen Tiefsee zu leben, mit bakteriell erzeugtem Licht Beute anzulocken und Happen zu verschlingen, die doppelt so lang und zehnmal so schwer sind wie man selbst? Der bei Kleine Gestalten erschienene »Atlas der Ozeane – Unglaubliche Abenteuer und wunderbare Tiere auf und unter Wasser« (...) breitet auf vierzig farbig illustrierten Doppelseiten das Universum von mehr als hundert faszinierenden Ozeanbewohnern aus, mit je einem Einführungstext und knappen, gut verständlichen Informationen zu einzelnen Tieren. Je länger man schaut, desto mehr staunt man. Hält sich selbst für ein ziemlich unterdurchschnittliches Lebewesen, ist allerdings auch froh, nicht ständig der Gefahr ausgesetzt zu sein, gejagt, attackiert, gefressen zu werden. Der räuberischste Jäger ist jedoch der Mensch. Er zerstört, was er noch nicht einmal wahrgenommen hat, und seine Gier kennt keine Grenzen. Wenn das Buch über die Faszination für die Meere und ihre Bewohner hinaus bewirkt, dass im Betrachter der Wunsch geweckt wird, diese Wunderwelt nicht nur mit eigenen Augen zu sehen, sondern mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften um ihrer selbst willen zu bewahren, wäre viel gewonnen.
Emily Hawkins / Lucy Letherland (Ill.): »Der Atlas der Ozeane. Unglaubliche Abenteuer und wunderbare Tiere auf und unter Wasser«. Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld. Kleine Gestalten, 88 Seiten, 29,90 Euro
FAS Nr. 2, 12. Januar 2020, Feuilleton Seite 40