Wolf am Bett
Wer einen Drei- oder Vierjährigen hat und ihn am Abend ins Bett bringt, kennt sie: die Angst vorm Wolf. Hat er nicht das Rotkäppchen gefressen mitsamt Großmutter? Und hätte er nicht auch noch das siebente Geißlein verschlungen, wenn es sich nicht so gut versteckt hätte? Weshalb sollte er es also nicht auch zu ihm schaffen? Kaum sind die Vorhänge zugezogen und das Licht ausgeknippst, flüstert also jemand an meinem Ohr: »Mami, der Wolf kommt.« Und da hilft kein Beteuern, dass der Wolf ja im Wald lebe und dass er es niemals bis hierher zu uns schaffe. Und alle Einwände, dass der Wolf doch gar keinen Schlüssel habe und nicht durchs Fenster klettern könne, weil wir so weit oben wohnen, bringen nichts. Nein, der Wolf kommt trotzdem, da ist sich der bald schon Vierjährige ganz sicher. Bis, ja bis zu dem Abend an dem das Buch »Der Wolf kommt nicht« von Myriam Ouyessad und Roman Badel (...) auf der Bettdecke lag und vor dem Einschlafen vorgelesen wurde. Denn da ... aber nein, das wird hier jetzt nicht verraten. Nur so viel: Die Geschichte, die Myriam Ouyessad und Roman Badel in Text und Bild erzählen, spielte wunderbar mit der Erwartung von Vorleserin und Zuhörer, brachte sie zum Kichern und hielt die Spannung bis ganz zuletzt. Und erhielt am Ende das größte Lob, das ein Kinderbuch bekommen kann. Denn kaum hatten wir die Schlusspointe ausgekostet, sagte der gar nicht mehr ängstliche, fast schon wolfliebende Dreiviertelvierjährige: »Noch mal, Mami!«
Myriam Ouyessad / Roman Badel (Ill.): »Der Wolf kommt nicht«. Aus dem Französischen von Ina Kronenberger. Gerstenberg, 32 Seiten, 13 Euro
FAS Nr. 4, 26. Januar 2020, Feuilleton Seite 42