Michael Maar »Proust Pharao«

21.12.2008

Michael Maar »Proust Pharao«Rezension

Narziss, Proust und Kammerzofe


Proust-Leser sind neugierig. Proust-Leser wollen alles wissen. Alles, was das große Werk, seine Entstehung, seine Figuren, seinen Erzähler und natürlich was seinen Autor angeht. Und dabei ahnen sie doch, dass sich bei Proust und seiner »Recherche« hinter jeder geöffneten Tür ein Vorhang, hinter diesem wieder eine Tür verbirgt, ein Vorzimmer, ein Salon, ein Gang, eine Treppe, eine Kammer mit einem Fensterchen, und dass all diese Räume mal im hellen Sonnenschein liegen, mal in Dämmerlicht gehüllt sind, immer anders erscheinen, nie zu ergründen sind.

Michael Maar ist so ein schlüsselsuchender, vorhängebewegender Leser; wieder und wieder öffnet er die verschiedenen Türen, betritt die proustsche Zimmerflucht mal durch den Vorder-, mal durch den Dienstboteneingang, wissend, dass das ein unendliches Gehen, Verweilen, Beobachten, Betrachten ist. Bei diesen Gängen machte er über die Jahre hinweg wundervolle, andere Proust-Leser beglückende Entdeckungen, von denen er nun in einem schmalen, bibliophilen Band erzählt. Da ist der berühmte Brief, den der sechzehnjährige Proust an seinen Großvater schrieb, um Geld für einen zweiten Bordellbesuch zu erbitten, der erste habe in einem Desaster geendet (angeblich zerbrach er in der Aufregung einen Nachttopf und war dann nicht mehr in der Lage, den Akt zu vollziehen). Ihn liest Michael Maar als ein Beispiel für die früh von Proust entwickelte Begabung der das eigentliche Geheimnis deckenden Offenbarung. Lebenslang sah sich Proust zum Versteckspiel gezwungen, das ihn zwar eine einzigartige Fähigkeit im Beobachten der anderen entwickeln ließ, eine beängstigende Begabung für die liebenswürdige Schmeichelei, die einwickelnde Freundschaft; die ihm aber vor allem dazu diente, seinen grenzenlosen Egoismus und seine infantile Verletzlichkeit, seinen Narzissmus und seine Gleichgültigkeit zu verbergen, besonders aber sein großes Geheimnis: dass seine Liebe Männern galt. Das bis zur Naivität Offenherzige ergäbe dann, so Maar, gerade das Versteck, in dem das Geheimnis seinen Platz findet.

Wie groß die Angst vor Enthüllung war, zeigt die Korrespondenz mit den Freunden, etwa mit Lucien Daudet: Hier wird das Versteckspiel mit Abkürzungen betrieben, wie »m. g.« für »mauvais genre«, einer Anspielung auf Männerliebe, werden verräterische Worte durch minutiöse Schilderungen zugedeckt, ist Proust um betonte Nachlässigkeit und Kühle des Tons bemüht. Und als Edgar Aubert, der wohl die erste große Liebe Prousts und Vorbild für Albertine, die Geliebte des Erzählers im Roman, war, an einer Blinddarmentzündung stirbt, fällt das Kondolenzschreiben geradezu stoisch aus – etwas, was bei dem sonst so gefühlsüberschwänglichen Proust aufhorchen lässt.

Prousts Roman ist zu großen Teilen nicht Erfindung, sondern Verwandlung; wie nahe Held und Erzählung dem Autor stehen, zeigen die Briefe, in denen Proust in der ersten Person von seinem Erzähler spricht (der ja Marcel heißt wie er selbst). Und da er einerseits so sehr aus dem Autobiographischen schöpft, andererseits seine sexuelle Neigung verschleiern will, verwandelt er die geliebten Männer eben in Frauen, wobei er manches Mal vergisst, Charakterzüge, Eigenschaften, Tätigkeiten und Interessen geschlechtsspezifisch anzupassen.

Berühmt geworden sind die hübschen jungen Fischerinnen; Maar nun folgt, mit großem Sinn für das Komische, den Spuren der Kammerjungfer der Baronin Putbus – in der »Recherche« das sich ewig entziehende erotische Ziel des Erzählers –, und er entdeckt in den Vorstufen des Romans lang ausgeführte Passagen, in denen Held und Kammerzofe nicht nur zusammentreffen, sondern sogar intim werden. Im Anschluss dann schlägt der Erzähler einen Ausflug im Automobil vor, und die Zofe erwidert begeistert: »›Am liebsten mag ich Autos, Baccara, guten Wein und Pferderennen‹ – die typischen Interessen eines jungen Mädchens um 1900 eben«, schließt Maar lapidar.

Da er nicht erfinden konnte, musste sich Proust dem Unbekannten, von dem er erzählen wollte, aussetzen, durchstreifte er das verdunkelte, von deutschen Fliegern bombardierte Paris, dessen Nachthimmel die Scheinwerfer absuchten, besuchte er die Schwulenbordelle, um sadomasochistische Sexualpraktiken zu studieren. Und als er vom Tod und vom Sterben erzählen wollte, nicht nur aus der Perspektive eines Angehörigen, eines Trauernden, sondern aus der des Sterbenden selbst, ging er auch diesen Weg. Zwei Tage wartet Céleste Albaret, die Haushälterin, Sekretärin, Pflegerin, Gesprächspartnerin, Vertraute, die im Herbst 1913 in Prousts Haus kam und neun Jahre, bis zu seinem Tod, an seiner Seite lebte, ihn liebte und verehrte, in der Küche auf sein Klingeln. Zwei Tage hört sie nichts. Sie schleicht zu seiner Tür, lauscht. Nichts. Dann, endlich, am Abend des zweiten Tages, klingelt es. Bleich und erschöpft liegt Proust da, sagt, »auch ich habe geglaubt, daß wir uns vielleicht nicht wiedersehen würden«. Er hatte Schlafmittel genommen, viel mehr als sonst, um »den schwarzen Grund mit den Fingerspitzen« zu berühren. Sie sprachen nie mehr darüber.


Michael Maar: »Proust Pharao«. Berenberg-Verlag 2008, 80 Seiten, 19 Euro

FAS Nr. 48, 29. November 2009, Feuilleton Extra Seite B4–B5

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