Zu Fuß
Was ein Name wie Paris vor fast vierzig Jahren im Herzen eines Bewohners der DDR auslösen konnte – ist das überhaupt noch vorstellbar? Ich war damals acht Jahre alt und begann gerade, Französisch zu lernen, meine Mutter, Jahrgang 1943, erzählte, dass sie, seit sie acht Jahre alt war, davon träumte, einmal nach Paris zu fahren. Sie arbeitete an der Humboldt-Universität, las und sprach Französisch, hatte manchmal französische Studenten zu Gast, zeigte uns Fotos von ihrer in Paris lebenden Tante, mit der sie sich Briefe schrieb. So wie uns ging es Millionen Menschen in diesem Land, wir wuchsen mit einer riesigen Sehnsucht nach einer Welt auf, die wir nicht betreten durften, mit deren Geist, Büchern, Zeitschriften, Filmen, Kunst wir uns aber immerzu beschäftigten. Kein Wunder also, dass die Fotos, die Roger Melis 1982 während eines einmonatigen Aufenthalts in der Stadt an der Seine machte und die vier Jahre später in dem Fotoband »Paris zu Fuß« erschienen, über Nacht Kultstatus hatten. Die Fotos wurden nicht bloß betrachtet, sie wurden studiert. Jedes Detail bestaunt, diskutiert, beneidet, auswendig gelernt und mit sehr eingeschränkten Mitteln der Versuch unternommen, Haltung, Mode, Frisuren ins eigene Leben zu übertragen. Der Leipziger Lehmstedt Verlag, der die Schätze der ostdeutschen Fotografie seit vielen Jahren hebt und in sorgfältig edierten, preiswerten Bänden bewahrt, hat jetzt, zum 80. Geburtstag von Roger Melis, eine neue Auswahl seiner Paris-Bilder herausgebracht, darunter dreißig bisher unpublizierte Aufnahmen – nicht Grau in Grau, sondern als Duotone (...).
Roger Melis: »Paris zu Fuß«. Ausgewählte Fotografien. Hrsg. von Mathias Bertram. Mit einem Vorwort von Sonia Voss. Lehmstedt, 152 Seiten, 120 Duotone-Tafeln, 30 Euro
FAS Nr. 38, 20. September 2020, Feuilleton Seite 38