Friedrich Rückert »Erinnerungen aus den Kinderjahren eines Dorfamtmannsohns, 1829«

31.01.2016 Sprache/Meta

Friedrich Rückert »Erinnerungen aus den Kinderjahren eines Dorfamtmannsohns, 1829«Rezension

Zu Friedrich Rückerts 150. Todestag gibt es seineErinnerungen aus den Kinderjahren eines Dorfamtmannsohnsin einer kommentierten historisch-kritischen Edition


Friedrich Rückert klagte oft über seine Doppelnatur – er fühlte sich als Dichter und Sprachenvermittler geboren, wollte (und musste) aber auch als Gelehrter wirken; seine poetische Produktion ist ein Füllhorn, das einen auch erschrecken kann, er schrieb Gedichte wie andere Leute rauchen – am Endvers des letzten Poems entzündete er schon wieder den ersten des nächsten, und auch als Übersetzer aus dem Arabischen und den orientalischen Sprachen war er unermüdlich, brachte so manchen Schatz ins Deutsche und mit ihm neue Reimschemata und Metren.

1826 war er einem Ruf nach Erlangen gefolgt, übernahm an der dortigen Universität die Professur für orientalische Sprachen an der Theologischen Fakultät. Die Sache machte ihm nicht viel Freude. Die Erlanger Theologen, in orthodoxem Luthertum erstarrt, machten ihm das Leben sauer und kritisierten seinen unkonventionellen Lehrstil, wollten ihm gar sein Ausschweifen in Gefilde, die ihm verlockend erschienen, die aber nicht Bestandteil des Lehrplans waren – er sollte ja vor allem die Sprachen der Bibel, Aramäisch, Hebräisch, lehren –, verbieten. Aber er setzte sich über solche Einschränkungen hinweg, schon bald wildert er in angrenzenden Gebieten. Rückert war ein nimmersatterSprachenfresser, ihn interessierte brennend, wie die Sprachen untereinander zusammenhängen, welche Wörter woher kommen, wie ihre lautliche Gestalt und ihre Bedeutung sich verschoben haben, mit jeder Sprache tauchte er in eine neue Gedanken-, Gefühls- und Geisteswelt, die ihn faszinierte und nur durch die Sprache zu erobern war.

Bald büxte er also aus und lernte Persisch, Sanskrit und Altarabisch, stand in regem brieflichem Austausch mit dem Wiener Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall und dem berühmten, in Berlin lehrenden Sanskritisten Franz Bopp, der auch Wilhelm von Humboldt in dieser Sprache unterrichtet hatte. Seine Übersetzung und Nachdichtung der „Verwandlungen des Abu Seid von Serug“ oder „Makamen des Harari“, eines seiner Hauptwerke, erschien noch im Jahr des Umzugs. Zwei Jahre später folgte seine Nachdichtung des „Nal und Damajanti“ aus dem indischen Nationalepos „Mahâbhârata“. Trotz allem wurde er in Erlangen nicht froh. Das Lehren machte ihm keinen Spaß, die Sorgen drückten – die Familie wuchs fast jedes Jahr um ein Kind –, dazu gesundheitliche Probleme, wohl psychosomatischer Natur. Eine Kur in Bad Ems mit der geliebten Ehefrau Luise und ohne die fünf Kinder, die auf die Großeltern verteilt wurden, verschaffte ihm im Sommer 1829 eine Verschnaufpause.

Rückert ist jetzt vierzig Jahre alt. Er hat eine Familie, eine Professur, steht in der Lebensmitte. Zeit für einen Rückblick, Erinnerungen an die Kindheit. Aufgewachsen ist er in dörflicher Umgebung, in Oberlauringen bei Schweinfurt, Rückerts Geburtsstadt, in Unterfranken. Sein Vater wurde, als er vier Jahre alt war, Amtmann am dortigen freiherrlichen Truchseßschen Justiz- und Kameralamt, der Ortswechsel bedeutete für den Jungen ein Eintauchen ins Ländliche, wo er unbeaufsichtigt herumstromern und sich austoben konnte. Bis zu seinem 14. Lebensjahr wird er dort leben, also seine ganze bewusst erlebte Kindheit in dieser Umgebung verbringen.

Und jetzt, in der kurzen sommerlichen Erholung zwischen den vielen Pflichten und Sorgen, steigen die Erinnerungen auf, bestärkt noch von einem Besuch in Schweinfurt im Frühjahr aus Anlass der Hochzeit der Schwester Sophie. Im Herbst beginnt Rückert mit einer Reihe von Gedichten mit Kindheitserinnerungen, die er Ende des Jahres bereits abschließt; sie erscheinen allerdings erst 1837 im vierten Band der „Gesammelten Gedichte“, und zwar als der 40 Gedichte umfassende Zyklus „Erinnerungen aus den Kinderjahren eines Dorfamtmannsohns. 1829“.

Da stehen Landschaftsschilderungen neben Porträts, bissige Schilderungen des lasterhaften Lebens des Dienstherrn neben ironischen Selbstbeschreibungen und autobiographisch gefärbten Geschichten und Anekdoten. Es ist ein bunter Strauß, auch formal, für jedes der Gedichte findet Rückert ein anderes Versmaß und Metrum, oft verschmitzt, frisch, munter. Es sind Impressionen, weder chronologisch noch inhaltlich geordnet, man sollte keine nüchterne Schilderung der dreißig Jahre zurückliegenden ländlichen Wirklichkeit erwarten, auch wenn sich mancher authentische Zug in das Ganze mischt. Für uns heutige Leser ist der Abstand noch größer, mit gewissen Empfindungen – beim Spielen, Umherstreifen, ersten Liebeleien – sind wir vertraut, mit dem damaligen sozialen Gefüge, dem historischen Hintergrund weit weniger. Rückerts Kindheit fiel keineswegs in eine idyllische Zeit, vielmehr wuchs er in einer Epoche des Umbruchs auf: Um 1800 vollzog sich der Übergang von der Feudal- in die bürgerliche Gesellschaft, von der Agrar- in die Industrieproduktion. Das Römische Reich Deutscher Nation wurde durch Napoleon in die Gruft verabschiedet, der Adel entmachtet, Klöster und ihr Besitz säkularisiert, die Juden kamen allmählich in den Genuss staatsbürgerlicher Freiheiten und Rechte.

Den historischen Horizont sollte man beim Lesen im Hinterkopf haben, dann wirken die Gedichte reicher, tiefer, als bei einer nur oberflächlichen Lektüre. In der anlässlich des 150. Todestags Rückerts am heutigen Tage – 31. Januar 2016 – herausgegebenen kritischen Edition des Zyklus, die von den beiden Rückert- und Lokalforscherinnen Nora Zügel und Dagmar Stonus besorgt und von der Rückert-Gesellschaft in Schweinfurt herausgegeben wurde, findet sich dazu reichlich Material. Entstanden ist eine kleine, feine Publikation, die den bekannten Zyklus um gestrichene Verse und Strophen sowie zehn in der Gesamtausgabe nicht enthaltene, verworfene oder unvollendet gebliebene Gedichte vermehrt und dazu einen umfangreichen, gut handhabbaren und lesenswerten Apparat bietet.


Friedrich Rückert: »Erinnerungen aus den Kinderjahren eines Dorfamtmannsohns, 1829«.  Herausgegeben von Nora Zügel und Dagmar Stonus. Wallstein 2016, 151 Seiten, 12,90 Euro

fixpoetry, 31. Januar 2016

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