Dorothea Grünzweig »Plötzlich alles da«

30.12.2020 Sprache/Meta

Dorothea Grünzweig »Plötzlich alles da«Rezension

Ist die Dichterin eine Rumpelstilzchenbezwingerin?
Der neue Gedichtband »Plötzlich alles da« von Dorothea Grünzweig


Seit 1989 lebt die Dichterin Dorothea Grünzweig in Finnland. Erst war sie Lehrerin in Helsinki, dann zog sie in ein südfinnisches Dorf. Inzwischen ist sie dort tief verwurzelt, vertraut mit den finno-ugrischen Mythen und Erzählungen, der Lebensweise, der Sprache der Lappen und Samen, und ist doch immer noch die Fremde, die einen anderen Blick hat auf Menschen, Tiere und Landschaft, auf die fast sonnenlosen, bitterkalten Winternächte mit dem Polarlicht und die helle, sinnliche, schwebende Mittsommerzeit. In diesem Fremd- und Beheimatetsein Grünzweigs in Finnland spiegelt sich unser aller Fremd- und Heimischsein in der Welt, die die unsrige ist und der wir doch nur in seltenen Augenblicken wie selbstverständlich angehören, nämlich nur dann, wenn wir die Grenzen der Beobachtung, der Beschreibung übersteigen und uns dem Seienden fließend anvertrauen und verbinden.

Eine Bewegung, die wohl jede der Natur zugewandte, empathische Dichtung vollführt, indem sie in und mit der Sprache die Schöpfung im Großen wie Winzig-Kleinen noch einmal zu erschaffen versucht – in all ihrer Schönheit, ihrer Verletzlichkeit und Vergänglichkeit, aber auch in ihrer ungeheuren Verschwendung und Kraft. Und die doch der Dichtung vorausgeht, denn sie ist ohne Sprache. Die Dichtung, das Wort folgt erst im Nachgang und ist mit dem grenzenauflösenden Zustand nie identisch. In dem Augenblick, in dem die Dichtung anhebt, ist sie bereits in der Welt der Sprache, nicht mehr in der der Natur.

Dorothea Grünzweig ist Romantikerin. Was bedeutet, dass sie die nahezu unaufhebbare Grenze jederzeit spürt und um sie weiß. Und dennoch darauf setzt, diese Grenze mit Hilfe der Sprache zu übersteigen. Das dichterische Wort ist für sie nicht das Trennende, sondern vielmehr die Brücke, die sie mit dem Natürlichen verbindet. Dies wird auch in ihrem zuletzt erschienenen Gedichtband, »Plötzlich alles da«, deutlich, in dem das lyrische Ich als Schamanin agiert, der die Welt erst wirklich wirklich wird, wenn sie in der Sprache und durch die Sprache vor ihrem inneren Auge epiphanisch ersteht. Dann gibt sie sich zu erkennen und ihr Geheimnis preis. Diese Preisgabe aber ist nicht Entblößung, Verrat am Natürlichen, sondern seine Erlösung.

ich muss die namen befreien die in den tieren pflanzen
den steinen dem erdreich   in wasser und luft   in deren
geheimen verbindungen sitzen (...)

(...) unerlöst darf keines bleiben   weil sonst
die dinge waisenalleine sind (...)
(...) weil sonst zwischen ihnen

und mir eine leere wie eine ausufernde wüste klafft
und immer wenn das befreien gelingt sagen die dinge
da du unsere namen weißt wollen wir uns niemals
gegen dich wenden   ja   werden von jetzt an dich schützen

                                                                              (wenigstens aus mundeskräften, 69)

Das bedrohlich und unerreichbar Andere der Natur kann also, wie das »Rumpelstilzchen« im gleichnamigen Märchen der Brüder Grimm, gebannt werden, wenn die Dichterin es bei seinem Namen nennt, der tief in ihm verborgen ist. Es verliert dann nicht nur seinen Schrecken, sondern schenkt sogar Gehorsam und Schutz. Das ist magischer Kinderglaube, der die Welt nicht anders als auf den Menschen bezogen denken kann, dem alles Zeichen und Bedeutung ist und der die Wirklichkeit mit seiner eigenen Projektion verwechselt. Denn nicht die Dinge sind »waisenalleine«, sondern, wie die folgende Zeile deutlich macht, das lyrische Ich. Es ist der Mensch, der mit Verlorenheit und Sinnleere kämpft und sich Verbündete sucht, ausgerechnet dort, wo ihm alles sagt, dass es auf ihn nicht ankommt. Nicht die Natur muss erlöst werden, es ist der Mensch, der sich nach Erlösung sehnt, nach Aufgehobenheit und Sinn.

Die Zurichtung und Beherrschung der Welt durch die Sprache, Begriffe und Namen, wird bei Grünzweig jedoch umgedeutet zu einer »Befreiung«; dabei ermöglichen gerade sie erst die umfassende Instrumentalisierung und Ausbeutung durch den Menschen. Grünzweig aber sehnt sich in eine kindliche Unschuld zurück, in der beides noch dasselbe schien, die Sprache magisch war und die Welt voller selbstgemachter Wunder, als Wirksamkeit Allmachtsphantasien beflügelte und man vom eigenen Sterbenmüssen allenfalls etwas ahnte. Solange das Lied erklingt, steht die Zeit still, sind Tod und Zerstörung ihrer Macht beraubt, waltet Harmonie in der Schöpfung, wachsen der Dichterin die Kräfte der Natur (und der Kindheit) zu.

Es nimmt daher nicht wunder, dass Grünzweig in den Gedichten finno-ugrische Wörter mit ihrer Kindersprache, dem Schwäbischen, mischt; die Wörter bezeichnen nicht Sachverhalte, sondern Seinszustände, sind Zauberformeln, Anrufungen, magisch, ein Schutzmantel, der sich über die Schutzbedürftige legt, sind Gebet. Ihr Klang ist bedeutsamer als ihre Bedeutung, auch wenn Grünzweig diese akribisch in einem den Band beschließenden Index angibt. Solange gesprochen, gesungen, gedichtet wird, ist es, als riefe sie immerfort: Seht her – ich bin lebendig, ich lebe! Unverwundbar, da verbunden mit der Schöpfung.

legenden und mythen denken in uns seit unserer
kindheit (...)
haben das zeug sich über alle tage zu breiten
alle alle erdenklichen tage   als wehrhaftes dichtes gefieder

                                                                              (fest der fische, 47)

Das eigentliche Thema des Buches sind daher auch nicht Tiere und Pflanzen, sondern sind das Leben, das Lebendige und der Tod. Das Sterben und der Tod der Mutter des lyrischen Ichs brechen in die vermeintlich heile Welt der finnischen Natur. Aus der umsungenen Mainacht, dem Wunder eines späten Schnees im Frühjahr samt Traum von einer Geburt, wird eine von Zerstörung und Tod heimgesuchte Welt: Ein Bär wird erschossen, Bäume werden gefällt, zwei äußerlich unversehrt wirkende Drosseln liegen tot im Garten, das lyrische Ich schneidet sich mit einem Messer in die Daumenwurzel, in den gefällten Bäumen hängen zerschlissene Vogelnester mit Splittern von Eiern, Maschinenlärm erfüllt die Luft. Es ist, als würde der Verlust der Mutter das lyrische Ich sehend und fühlend machen für den Schmerz, die Angst und Verlorenheit alles Kreatürlichen und nicht nur des eigenen endlichen Daseins. Genau darin aber besteht die größte, die eigentliche Nähe von Mensch und Natur: in Geborenwerden und Sterbenmüssen, Schaffen und Ermatten, Zerstören und Zerstörtwerden. Aus einer menschlichen Perspektive kann man das beklagen, aus einer übermenschlichen Perspektive, zu der wir uns ja doch manchmal aufschwingen können, mit Ruhe betrachten. Der Schmerz ist in uns, nicht außerhalb.


Dorothea Grünzweig: „Plötzlich alles da“. Gedichte. Wallstein, 140 Seiten, 24 Euro

fixpoetry, 30. Dezember 2020
 

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