Édourd Louis »Das Ende von Eddy«

07.03.2015 Sprache/Meta

Édourd Louis »Das Ende von Eddy«Rezension

 

Geschlecht und Klasse
Édouard Louis, 22, erzählt in seinem Debütroman vom Aufwachsen als Schwuler in Nordfrankreich, täglicher Diskriminierung und Mimikry


Ein großes Thema der Literatur ist der Außenseiter. Wie er sich durchschlägt in einem ihn missachtenden, feindlich gesonnenen Umfeld, wie er versucht, sich anzupassen, oder, im Gegenteil, aufsässig wird, sich zur Wehr setzt. Der Außenseiter ist wie ein Brennglas, das Erfahrungen, die jede und jeder insbesondere während Kindheit und Adoleszenz durchmacht, sammelt und verstärkt. Daher rührt auch die Faszination dieser Figuren, begegnen wir ihnen in Literatur und Film. Das könnten auch wir sein, sind wir. Und wir empfinden Nähe, neigen zur Identifikation – was wir, wenn wir auf Menschen, die Ausgestoßene, Marginalisierte sind, im wirklichen Leben treffen, verweigern. Die Kunst schafft einen Raum für Faszination und Empathie.

Édouard Louis ist 22 Jahre alt, aufgewachsen in einem Dorf im Norden Frankreichs, in der Picardie, in einer Arbeiterfamilie. Zurzeit studiert er an der École Normale Supérieure (ENS) in Paris, eine der Eliteuniversitäten Frankreichs, Philosophie und Soziologie. Und er hat einen Roman veröffentlicht – »En finir avec Eddy Bellegueule« –, der jetzt auch auf Deutsch erschienen ist. Es ist ein stark autobiographisch geprägtes Buch, Édouard Louis, der eigentlich Eddy Bellegueule (Schönmaul) heißt, verarbeitet darin seine Kindheit und Jugend, in einer Familie, die arm ist und gewalttätig und die nicht viel anzufangen weiß mit diesem Sohn, Bruder, der, das zeigt sich schon früh, anders ist als die anderen Jungen im Dorf, in der Schule, er hat ein »Gehabe« an sich, er ist schwul.

Alle spüren es, wissen es, auch die Eltern, die Geschwister, schämen sich dafür, verbieten ihm seine Andersartigkeit und zwingen ihn zu absurder Mimikry, die sich auf alles erstreckt, was sein Leben ausmacht: Gestik, Mimik, Gehen, Essen, Sprechen, Interessen, Kleidung, Freundschaften, Liebe, Begehren. Es zerreißt den Jungen, der geliebt sein will, wie alle Kinder, Menschen geliebt sein wollen, von ihren Eltern vor allem, ohne etwas leisten oder sein oder darstellen zu müssen, bedingungslos, und der ständig spürt, dass etwas mit ihm nicht stimmt, dass die anderen nicht akzeptieren können, dass er anders ist als sie, dass er ist, wie man auf keinen Fall zu sein hat als Junge, als Mann in dieser Welt: schwul.

Das Buch, das sich Roman nennt, das also durchaus fiktionalisiert (nur weiß man nicht, wo, wie sehr, da schon der Klappentext einen darauf hinweist, dass Édouard Louis all das, wovon er erzählt, wirklich erlebt habe), der Roman ist ein literarisches Coming-out. Was bedeutet, ein Coming-out mit den Mitteln der Sprache. Es ist die des jetzigen Édouard, der seinen Vatersnamen abgelegt, sich einen neuen gegeben hat, der sich mit dem Roman erschafft – dieser alte Traum der Künstler, sich selbst zu gebären – und zugleich, durch den Roman, seine Herkunft festschreibt, denn sie ist sein Stoff, sein Material. Eine Quadratur des Kreises, wie sie so viele vor ihm versucht haben. Vor allem an Sartre und seine autobiographische Erzählung »Les mots« denkt man bei der Lektüre. Auch Sartre wurde zu einem Monstrum, durch die Erwartungen, den Druck der Erwachsenen, wenn auch aus entgegengesetzter Richtung: Er sollte der gelehrte Liebling des Großvaters, das schreibende Wunderkind sein. Und existierte bald nur noch, indem er schrieb. Ein Ausagieren der Lebensimpulse im Schreiben, weil es ihm nicht anders gestattet war, seine Energien zu entwickeln und auszugeben.

Sublimation also – und darin ist auch Édouard Louis Meister. Sein anderes, von der Mehrheit abweichendes Begehren ist verboten. So sehr verboten, dass ihm eigentlich nichts bleibt, das nicht davon berührt wird. Er lebt in der Lüge, im Versteck, in der Einsamkeit. Seine Eltern wollen seine Not nicht sehen, denn das hieße, sich damit auseinandersetzen, dass ihr Sohn anders ist, nicht ihren Wünschen und Projektionen entspricht. Wie sehr die Erwachsenen, insbesondere die eigenen Eltern ihr(e) Kind(er) biegen, kneten, mit widersprüchlichen Wünschen verunsichern, mit ihren Ansprüchen und Erwartungen überfordern, um ihre eigenen Misserfolge zu kompensieren, wird einem selten so klar wie hier, bei Édouard Louis.

Aber sein Roman ist nicht nur Entwicklungs-, Bildungs-, Coming-of-Age-Geschichte, sondern auch soziologische Studie: Er untersucht Milieu, Lebensweise, Sprechweisen, Geschlechterrollen und gibt, nicht erstaunlich für einen Soziologiestudenten, der ein Colloquium zu Bourdieu geleitet und bei der Umsetzung einer Arte-Dokumentation über Foucault mitgewirkt hat, eine genaue Beschreibung der Bestrebungen um Distinktion der Akteure, der offenen und versteckten Gewalt.

Die Literatur hat die Möglichkeit zu befreien. Zunächst den, der sie schreibt. Das Schreiben schenkt beglückende Momente der Verwandlung, von Ohnmacht in Macht. Schreibend ermächtigt man sich einer Welt, die einen misshandelt hat. Aber Misshandlung heißt Prägung. Und die Prägung wird man nicht los. Der Wunsch nach Selbstermächtigung ist eine Sehnsucht, die manchmal besänftigt, aber nie gestillt werden kann. Es ist anzunehmen, dass Édouard Louis mit Eddy Bellegeule nicht an ein Ende kommen wird, bis ans Ende seiner Tage. Es ist ihm zu wünschen, dass er seinen Frieden mit ihm machen kann, was bedeutet, akzeptieren, dass er ist, wer er ist.

Das Buch hat sich in Frankreich bereits 200.000 Mal verkauft. Das kann verschiedene Gründe haben: dass da viele Menschen, Heranwachsende sind, die sich in Eddy wiederfinden. Dass es Interesse weckt als Milieustudie, denn was weiß »man«, die gebildete lesende bürgerliche Schicht, schon von den Paria in den Dörfern und Fabriken, den Arbeitslosen, den Sozialhilfeempfängern. Das wäre dann Voyeurismus. Der Roman bedient beide Bedürfnisse, er weckt Verständnis, er macht anschaulich, er führt vor, er verrät. Literatur muss das tun, darf keine Rücksicht nehmen. Aber mir scheint, der Roman ist, bei aller Drastik des Beschriebenen, noch nicht radikal genug. Denn er hat keinen eigenen, aus der Sache kommenden, einzigartigen Stil. Der Stil bleibt äußerlich, verharrt in einer Pose der Distanz, er hat keine poetische Qualität, er verwandelt nicht.

Édouard Louis musste dieses Buch schreiben, um sich zu befreien. Um neutralen Boden zu gewinnen. Das nächste Buch, der nächste Roman, wenn einer kommt, wird zeigen, ob er ein Schriftsteller ist.


Édourd Louis: »Das Ende von Eddy«. Roman. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. S. Fischer 2015, 206 Seiten, 18,99 Euro

fixpoetry, 7. März 2015

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