Mark Twain »Tom Sawyer und Huckleberry Finn«

21.04.2010

Mark Twain »Tom Sawyer und Huckleberry Finn«Rezension zur Neuübersetzung

Schrecken in mildem Licht

»Die Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn? Die kenne ich! – Das sagt jeder, der sie als Kind gelesen hat. Und dann schlägt man die Neuübersetzung von Andreas Nohl auf, die jetzt bei Hanser erschienen ist, und die ersten Seiten liest man schmunzelnd und nickt mit dem Kopf, denn ja, diese Geschichten, wie Tom seiner Tante Polly den Zucker unter der Nase wegstiehlt, bei der Zaunstreichstrafarbeit das Prinzip von Angebot und Nachfrage und der erfolgreichen Platzierung eines Produktes am Markt entdeckt, wie er sich in der Sonntagsschule langweilt, sich verliebt, einem Schatz auf die Spur und in einer weitverzweigten Höhle fast ums Leben kommt – das hat man noch gut im Kopf.

Aber schon bald zeigt sich in den vertrauten Episoden, die da auf der sonnig-staubigen Oberfläche des Leseweges vorbeiziehen, eine dunkle Gegenwelt: Jede Szene lässt sich wie mit einem doppelten Augenpaar lesen, dem des Heranwachsenden und dem des Erwachsenen, und letzterer hält, je länger er liest, immer öfter inne, zoomt sich hinein in das Verschwiegene oder nur Angedeutete hinter dem plaudernd Erzählten, und stößt da auf etwas, woran er sich nicht erinnert: auf Angst, Schrecken, Einsamkeit, Zweifel, Trauer.

Seltsam, dass man ein Buch, in dem Kinder, um ihre Haut zu retten, immerzu lügen müssen; in dem sie verachtet werden, weil sie weder Eltern haben noch Freunde, die zu ihnen halten; in denen ständig von Betrug, Folter, Lynchjustiz die Rede ist und die Flucht zur einzigen Existenzform wird, die das Überleben sichert, mit den Zuschreibungen ›humoristische Idylle‹, ›Verklärung der Kindheit‹, ›Lausbubengeschichte amerikanischer Machart‹ bedacht hat. Wer, bitte schön, möchte denn in dieser Welt Kind (gewesen) sein?

Schuld an diesem Urteil ist natürlich die alles scheinbar auf die leichte Schulter nehmende, am Mündlichen orientierte Erzählweise Mark Twains – ein Ton, der die Schrecken in mildereres Licht taucht; aber je länger man liest, desto fadenscheiniger wird der scheinbar so locker gewebte Schleier, und die Abfolge der Episoden verdichtet sich zu einer amerikanischen Reise ins Herz der Finsternis.

Die Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn sind also, könnte man meinen, eher ein Buch für Erwachsene. Andererseits sind sie aber gerade deshalb, und zwar in ihrer ungekürzten, unzensierten Form, ganz und gar und unbedingt ein Kinderbuch. Denn natürlich sollte man seinen Kindern gute Bücher zu lesen geben, Bücher also, die ihnen etwas zumuten, die die Welt zeigen, wie sie ist: grausam und schön, gefährlich und beglückend. Die vollständige, kommentierte Neuausgabe wird so zu einer Entdeckungsfahrt für Erwachsene und Kinder gleichermaßen: an die Ufer des Mississippi, in die Kindheit und in die Sprache – sie ist, wie Huck sich ausdrücken würde, ein verdammt gutes Buch in einer verdammt guten Übersetzung.«
 

Mark Twain: »Tom Sawyer und Huckleberry Finn«. Aus dem Amerikanischen übersetzt und mit Anmerkungen und Nachwort herausgegeben von Andreas Nohl. Hanser, München, 2010, 668 Seiten, 34,90 Euro

 

kultiversum, 21. April 2010
 

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