Heidelberg, 1909
Wie Ossip Mandelstam als 19-jähriger Student zum Dichter wurde
Vom Oktober 1909 bis März 1910 war der 1891 in Warschau geborene russisch-jüdische Dichter Ossip Mandelstam Student in Heidelberg. Die dortige Universität zog viele Russen an, die im Zarenreich vom Studium ausgeschlossen waren. Mandelstam traf das am 16. September 1908 in Kraft getretene Gesetz, das es nur noch drei Prozent der jüdischen Studienanwärter erlaubte, sich an der Universität der Hauptstadt zu immatrikulieren. Dafür mussten die Zeugnisse die allerbesten sein. Mandelstam war aber nur ein mittelmäßiger Schüler, ein Studienplatz für ihn also nicht erreichbar. So winkte das Ausland.
Schon das Jahr zuvor war er in Paris gewesen und hatte Vorlesungen an der Sorbonne und am Collège de France gehört. Grund für Auslandsaufenthalt war aber nicht nur die antisemitische Diskriminierung, die er in Russland erfuhr. Die Eltern hatten den 17-Jährigen auch deshalb kurzerhand von St. Petersburg an die Seine geschickt, um ihm seine revolutionären Phantastereien auszutreiben. Mandelstam hatte als Schüler Kontakt zur sozialrevolutionären Partei aufgenommen, die auch Terrorakte nicht ausschloss – da wollten die Eltern lieber auf Nummer sicher gehen und ihren Sohn im fernen Frankreich auf andere Gedanken bringen. Der Plan ging auf. Mandelstams revolutionäre Ambitionen verflogen, stattdessen begann, da er sich fast ausschließlich nur noch mit Poesie und Musik beschäftigte, sein dichterisches Feuer zu brennen.
Als er Ende September 1909 in Heidelberg eintraf, kam er als Dichter, nicht als Revolutionär. Die Stadt am Neckar hatte sich seit den Petersburger Studentenunruhen von 1861 zu einer der größten russischen Wissenschaftsstandorte entwickelt; zeitweise erweckte die Stadt den Eindruck einer russischen Kleinstadt, so stark war die russische Kolonie. In dem akademischen Milieu kursierten die im Zarenreich verbotenen Zeitschriften und Bücher, es wurde diskutiert und das Heimweh gepflegt. Als Mandelstam in die Stadt kam gab es dort also ein reiches russisches kulturelles Leben, er hatte Austausch und ein Publikum. Nach ersten Wochen, die er mit dem Erkunden der Stadt verbrachte, schrieb er sich am 12. November 1909 als Philologiestudent ein.
Sein Interesse galt zunächst altfranzösischen und provenzalischen Texten, bei dem Romanisten Friedrich Neumann hörte er eine Vorlesung zur „Geschichte der französischen Literatur des Mittelalters“. Er entdeckt François Villon. Zu dem in Paris Erkundeten trat nun aber auch die deutsche Literatur des Mittelalters: Mandelstam las den „Meier Helmbrecht“ von Wernher dem Gartenaere und mittelhochdeutsche Lyrik. Hinzu kamen Einführungsvorlesungen zur Philosophie-, bei Wilhelm Windelband, und Kunstgeschichte, bei Henry Thode.
Diese Fächerkombination war keine außergewöhnliche Wahl. Heidelberg war spätestens seit der Heidelberger Romantik ein Zentrum der Philologien und der Geisteswissenschaften. Und natürlich der Dichtung: Nah an Frankreich gelegen waren insbesondere die deutsch-französischen Bindungen stark. Der Wechsel von der Seine an den Neckar betonte und vertiefte auch bei Mandelstam Austausch und Einfluss. In Paris hatte er die Symbolisten entdeckt, insbesondere Verlaine hatte es ihm angetan; jetzt suchte er nach deutschen Dichterstimmen. Und er begann, selbst zu dichten.
In den sechs Monaten entstanden 14 Gedichte, die die Forschung als gesichert für diesen Zeitraum annimmt, da sie Briefen an die beiden verehrten russischen symbolistischen Dichter Maximilian Woloschin und Wjatscheslaw Iwanow beilagen; hinzu kommen, so der Herausgeber und Mandelstam-Kenner Ralph Dutli, ein Gedicht, das sehr wahrscheinlich in Heidelberg entstand, sowie 25 weitere, die er in zeitlicher und geistiger Nähe des deutschen Studienaufenthaltes sieht. Vierzig frühe Gedichte also hat Dutli zusammengetragen, sie übersetzt, kommentiert und mit einem einleitenden Text zu den biographischen, werkgeschichtlichen und zeithistorischen Hintergründen des Heidelberger Aufenthalts sowie einem abschließenden Essay zu den „deutschen Echos“ in Mandelstams Werk gerahmt.
So ist ein immerhin fast 200 Seiten umfassender Band zusammengekommen, der allerdings einem Schatz gilt, der nicht ganz so hell erstrahlen, funkeln und blitzen will, wie es sein Autor und Herausgeber gern hätte. Die Gedichte sind Frühwerk – und trotz aller Bemühungen Dutlis, motivische und sprachliche Verbindungen zu den Hauptwerken der Mandelstamschen Dichtung herzustellen, überzeugen sie nur selten.
Dutli aber neigt in seiner großen Liebe zu Mandelstam zu der verzeihlichen Sünde der Überinterpretation, der Literaturwissenschaftler so gern anheimfallen. Leider machen sie dadurch das, was sie verehren und anderen liebend ans Herz legen, nicht größer, sondern oftmals lächerlich. Und schlüpfen, um die Linien von Leben und Werk und innerhalb des Werks nachzuzeichnen, in die Rolle des nachgeborenen Propheten, der das Kommende nur deshalb zu schauen und zu deuten vermag, weil dieses Kommende längst Vergangenheit ist. Als Leser kann man daher nur selten mit der Begeisterung Dutlis mitgehen, muss vielmehr oft schmunzeln oder verdreht gar die Augen.
Die Übersetzung beziehungsweise der Versuch einer Nachdichtung der Gedichte muss sogar als gescheitert angesehen werden. Die deutschen Verse wirken so unpoetisch, dass Mandelstam mit ihnen als Dichter, auch als der der ersten Anfänge, geradezu ermordet wird. Wer die russischen Originalverse, die der Band gleichfalls enthält, weder lesen kann noch versteht, wird enttäuscht sein. Auch vom Kommentar: Der erschöpft sich zumeist in einer Nacherzählung des Inhalts; nur selten unternimmt Dutli den Versuch, Poetologisches zu thematisieren: das Dichterische als Dichterisches, formale Traditionen, Verstechnik und Klang finden kaum Erwähnung.
Sehr schön und lesenswert dagegen ist der den Band abschließende Essay zu den „deutschen Echos“ in Mandelstams Werk. Seine Deutsch(en)liebe gründet auf den Eltern, die ihm Philosophie und Musik nahebrachten, und auf einem seiner besten Freunde, den während der Armenienreise im Mai 1930 kennengelernten Moskauer Zoologen Boris Kusin, einem Goethe- und Bach-Verehrer. Goethe wird ihm Vorbild in seinem Bestreben, Orient und Okzident zusammenzudenken und die Idee der Universalpoesie, die Zeiten und Räume überbrückt, neu zu beleben. Das ist ihm wunderbar geglückt.
Ralph Dutli: »Mandelstam, Heidelberg«. Gedichte und Briefe 1909–1910. Mit einem Essay über deutsche Echos in Ossip Mandelstams Werk: „Ich war das Buch, das euch im Traum erscheint“. Wallstein 2016, 192 Seiten, 19,90 Euro
fixpoetry, 19. November 2016