Lektüre

14.05.2024

Lektüre14. Mai

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Aber wir sind auch deshalb Mischwesen, weil wir halb Wolfswissenschaftler, halb Schäfergehilfen sind. Hätten wir in jener Nacht reagieren sollen, zur Herde gehen, um den Wolfsangriff zu beenden? Manchmal, in den Fällen, wo die Herde zugänglich war und der Druck unerträglich, haben einige von uns eingegriffen und die Wölfe zurückgedrängt. In dieser Nacht war es zu dunkel, die Herde zu weit entfernt, unzugänglich, wir sind nicht hingegangen. Mit Schuldgefühlen danach. Wir haben immer Schuldgefühle gegenüber allen, immer das Gefühl, nicht die richtige Entscheidung getroffen zu haben, denn es gibt schlicht und einfach keine richtige Entscheidung – und das ist im Gegenteil das Zeichen dafür, dass wir bei der Arbeit sind.

Wie kann man in diesem Chaos den Kurs beibehalten? In der Schifffahrt gibt es die Praxis der negativen Navigation, sie ist durchaus dienlich, um sich in der Existenz zu orientieren. Man praktiziert sie, wenn man nicht weiß, wo man ist, und es nicht wissen kann. Wesentlich ist dann, zu wissen, wo auf der Karte man sicher nicht sein darf, und dann auf dem Papier geflissentlich zu bestimmen, was man um diese Orte des Todes beobachten müsste. Welche Anhaltspunkte, Leuchttürme, Küsten, Genuesertürme, Klippen, Archipele würde man sehen, wenn man da wäre, wo man nicht sein darf, will man nicht auf Riffe auflaufen, beschossen, von der Flut mitgerissen werden oder in Untiefen geraten. Danach besteht das Wesentliche darin, sich von jenen Anhaltspunkten fernzuhalten. Navigieren bedeutet dann, sie nicht zu sehen, und jedes Mal, wenn sie ins Blickfeld kommen, zu reagieren, um sie aus dem Blickfeld zu bekommen. Gutes Navigieren besteht dann darin, systematisch alle Anhaltspunkte zu verlieren. Das ist eine beunruhigende Kunst. Navigieren, indem man sich jedes Mal vom einzigen identifizierbaren und bekannten Punkt entfernt. Das Unbekannte zum Kompass nehmen, die Abwesenheit sichtbarer Anhaltspunkte zum Zeichen dafür, dass man richtig liegt, weil jeder bekannte Anhaltspunkt das Zeichen ist, dass man falsch liegt. Beruhigt sein, seines Wegs sicher, seiner Richtung nur sicher sein, wenn man das Unbekannte erreicht. Das ist die Kunst, sich in den weißen Flecken der Karte, in den unerforschten Zonen zu halten. Die Ungewissheit wird zur Sicherheit und zum Ziel, auf das wir zusteuern.

[...] in der wirklichen Diplomatie, der Diplomatie der Interdependenzen, die im Dienste der Beziehungen steht und nicht im Dienste eines der Mitglieder der Beziehung gegen den anderen, ist die negative Navigation eine wichtige Kunst, eine Alltagskunst. Der Kompass zeigt klar die Richtung an: der zu vermeidende Anhaltspunkt, von dem man sich immer entfernen muss, um aufs offene Meer der Ungewissheit zu gelangen, ist der sichere Hafen, die Seelenruhe, das Gefühl der moralischen Reinheit. Die Gefahr ist das Gefühl, im Dienste der ausschließlichen Gerechten Sache zu sein (für die unschuldigen Wölfe gegen die betrügerischen Schafzüchter), im Dienste der Heiligen Wut (gegen das diebische, sadistische Raubtier), im Dienste der Offenbarten Wahrheit. Die Gefahr ist die Überzeugung, zu den Guten, den Gerechten und den Unschuldigen zu gehören und gegen die Bösen, die Dummen und die Verbrecher zu sein, zu den Edlen Wilden gegen die schändlichen Menschen zu gehören, oder zur Zivilisation gegen die Wildnis.

Jedes Gefühl, Gewissheit zu haben, im Recht zu sein, muss verbannt sein, sonst wird man der Beziehung selbst nicht gerecht, das heißt all jenen, die in ihr sind, die in den Tausenden Maschen des Beziehungsgewebes verheddert sind, die vom Konflikt bis zur Sorge, von der Nutzung bis zur Liebe reichen, nur dass man ein und dasselbe Gebiet teilt, in dem das Habitat des einen das Gewebe aus allen anderen ist. (232–234)


Futurologie der Lebensformen

Jede gegenwärtige Lebensform, von der Biene zur Amöbe, vom Lorbeer zum Oktopus, ist potenziell, wenn man ihr die nötigen Millionen Jahre Zeit lässt, der Ahnherr von Lebewesen, die sozial begabter und kreativer sind als wir, die eine artikuliertere  und sinnreichere Sprache haben als wir, die selbstbewusster, in anderen Formen intelligenter sind und die Umwelt mehr respektieren als wir.

Diese schockierend wirkende Behauptung ist in ihrer Absurdität unwiderlegbar, denn schließlich sind wir das Ergebnis derselben, auf alle Lebewesen wirkenden Evolutionsprozesse, ausgehend von einem Ahnen, der in jeder Etappe seiner Verwandlung ebenso »primitiv«, ebenso einzellig war, ebenso wenig Neuronen und Cortex hatte wie viele Arten, die heute mit uns die Erde teilen. Das ist logisch unwiderleglich, befreit die Vorstellungskraft und ist ethisch beunruhigend. 

[...] In der Biologie kann man die These nicht zurückweisen, dass eine Möglichkeit besteht, und sei sie noch so klein, dass aus jeder gegenwärtigen, und sei es noch so einfachen Spezies, deren Population gefährdet ist oder floriert, in ein paar Dutzenden oder Hunderten Millionen Jahren Lebensformen entstehen können, die analoge Eigenschaften zu denen haben, die man an der menschlichen Gattung am meisten schätzt, und die neue Formen hätten: Arten der Güte und der Liebe, Selbstbewusstsein, Fähigkeiten zu Kultur, Zusammenarbeit, Formen der Ethik, die Fähigkeit, im Einvernehmen mit den anderen Lebensformen auf dem Planeten zu wohnen und verblüffende Intelligenzen im Plural; und »Freiheit« oder jedenfalls das, was man in der menschlichen Gattung so nennt – die zum Besten und zum Schlimmsten befähigt. (149–151)


Spekulative Biologie der humanistischen Tugenden

[...] Wenn man den Begriff des evolutionären Potenzials ernst nimmt, dann ist jede aktuelle Lebensform, vom Schwamm bis zum Oktopus, von der Biene bis zum Mazutake-Pilz, potenziell der Ahnherr von Spezies, die selbst den humanistischen und anthropozentrischen Kriterien entsprechend interessanter sind als wir. (152)


Die Banalität der Wunder

Seit nunmehr einigen Jahren hat die Evolutionsbiologie mithilfe der Idee der Zwänge den Begriff der Konvergenz geprägt, der zeigt, dass dort, wo man überall irreduktible Singularitäten sah, in Wirklichkeit große Konvergenzen am Werk sind. [...] Die Forscher haben gezeigt, dass die Fotosynthese, die wunderbare Fähigkeit der Bakterien (die sich später in den Pflanzen verkörperte), sich von der Sonne zu ernähren, um sie in Kohlenstoff zu verwandeln, in der Evolution mehr als hundertzwanzig Mal relativ unabhängig voneinander erworben wurde. (156–157)


Baptiste Morizot, Arten des Lebendigseins. Annäherungen an das verwobene Leben

 

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