Die Passion hat ein für alle Mal enthüllt, dass die Menschheit aus dem Opfer hervorgegangen ist. Sie hat das Sakrale demontiert, indem sie die in ihm steckende Gewalt zum Vorschein brachte.
Zugleich hat Christus aber auch das allen Religionen inhärente Göttliche bestätigt. Das unglaubliche Paradox, das niemand akzeptieren will, liegt darin, dass die Passion sowohl die Gewalt als auch das Heilige freigesetzt hat – und zwar gleichzeitig. Das Sakrale, das seit zweitausend Jahren »wiederkehrt«, ist also kein archaisches Sakrales, sondern ein »satanisiertes« Sakrales, satanisiert, weil man um es weiß. Gerade durch seine Exzesse ist es Vorbote der bevorstehenden Parusie. So lässt sich auch das, was wir als das Ursprüngliche zu beschreiben versuchen, mehr und mehr auf gegenwärtige Ereignisse beziehen. Dieses mehr und mehr ist das Gesetz, das unseren Beziehungen zugrunde liegt, und zwar in dem Maße, in dem die Gewalt in der Welt wächst – auf die Gefahr hin, dass sie die Welt dieses Mal zerstört. »Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König«, heißt es bei Heraklit.
Dieses Gesetz der menschlichen Beziehungen hat man einige Jahre nach dem Sturz Napoleons in einem Büro der Allgemeinen Kriegsschule zu Berlin auf eine neue Formel gebracht: »Steigerung bis zum Äußersten«. Die Formel bezeichnet das Unvermögen der Politik, das reziproke mimetische Anschwellen der Gewalt im Zaum zu halten. Ihr Autor, Carl von Clausewitz (1780–1831), konzipierte ein Buch zu diesem Thema, das wegen seines Todes jedoch unvollendet blieb. Möglicherweise handelt es sich um das bedeutendste Buch, das je über den Krieg geschrieben wurde, eine Abhandlung, die in England, Deutschland, Frankreich, Italien, Russland und China seit Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder neu gelesen wird. Auf den ersten Blick wirkt die posthume Abhandlung Vom Kriege wie ein strategisches Werk. Es behandelt das zu seiner Zeit aktuellste Beispiel einer Steigerung bis zum Äußersten, die sich – wie stets – ohne das Wissen der beteiligten Akteure vollzog. Dieser Trend hat Europa zerstört und bedroht heute die Welt.
René Girard, Im Angesicht der Apokalypse. Clausewitz zu Ende denken