Lektüre

01.07.2024

Lektüre1. Juli

Die Passion hat ein für alle Mal enthüllt, dass die Menschheit aus dem Opfer hervorgegangen ist. Sie hat das Sakrale demontiert, indem sie die in ihm steckende Gewalt zum Vorschein brachte.

Zugleich hat Christus aber auch das allen Religionen inhärente Göttliche bestätigt. Das unglaubliche Paradox, das niemand akzeptieren will, liegt darin, dass die Passion sowohl die Gewalt als auch das Heilige freigesetzt hat – und zwar gleichzeitig. Das Sakrale, das seit zweitausend Jahren »wiederkehrt«, ist also kein archaisches Sakrales, sondern ein »satanisiertes« Sakrales, satanisiert, weil man um es weiß. Gerade durch seine Exzesse ist es Vorbote der bevorstehenden Parusie. So lässt sich auch das, was wir als das Ursprüngliche zu beschreiben versuchen, mehr und mehr auf gegenwärtige Ereignisse beziehen. Dieses mehr und mehr ist das Gesetz, das unseren Beziehungen zugrunde liegt, und zwar in dem Maße, in dem die Gewalt in der Welt wächst – auf die Gefahr hin, dass sie die Welt dieses Mal zerstört. »Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König«, heißt es bei Heraklit.

Dieses Gesetz der menschlichen Beziehungen hat man einige Jahre nach dem Sturz Napoleons in einem Büro der Allgemeinen Kriegsschule zu Berlin auf eine neue Formel gebracht: »Steigerung bis zum Äußersten«. Die Formel bezeichnet das Unvermögen der Politik, das reziproke mimetische Anschwellen der Gewalt im Zaum zu halten. Ihr Autor, Carl von Clausewitz (1780–1831), konzipierte ein Buch zu diesem Thema, das wegen seines Todes jedoch unvollendet blieb. Möglicherweise handelt es sich um das bedeutendste Buch, das je über den Krieg geschrieben wurde, eine Abhandlung, die in England, Deutschland, Frankreich, Italien, Russland und China seit Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder neu gelesen wird. Auf den ersten Blick wirkt die posthume Abhandlung Vom Kriege wie ein strategisches Werk. Es behandelt das zu seiner Zeit aktuellste Beispiel einer Steigerung bis zum Äußersten, die sich – wie stets – ohne das Wissen der beteiligten Akteure vollzog. Dieser Trend hat Europa zerstört und bedroht heute die Welt.


»Anders aber gestaltet sich alles, wenn wir aus der Abstraktion in die Wirklichkeit übergehen. Dort mußte alles dem Optimismus unterworfen bleiben, und wir mußten uns den einen wie den andern denken, nicht bloß nach dem Vollkommenen strebend, sondern es auch erreichend. Wird dies jemals in der Wirklichkeit auch so sein? Es würde so sein, wenn:
1. der Krieg ein ganz isolierter Akt wäre, der urplötzlich entstünde und nicht mit den frühern Staatsleben zusammenhinge;
2. wenn er aus einer einzigen oder aus einer Reihe gleichzeitiger Entscheidungen bestünde;
3. wenn er eine in sich vollendete Entscheidung enthielte, und nicht der politische Zustand, welcher ihm folgen wird, durch den Kalkül schon auf ihn zurückwirkte.« (Clausewitz, Vom Kriege)

Erstens also ist der Krieg »nie ein isolierter Akt«, weil man den Gegner kennt, weil man sich bereits eine Meinung über ihn gebildet hat und ihn nicht als Abstraktion betrachtet. Zweitens besteht der Krieg

»nicht aus einem einzigen Schlag ohne Dauer [...] also schon darum werden beide Gegner in ihrer Wechselwirkung hinter der Linie einer äußersten Anstrengung zurückbleiben, und also nicht sogleich alle Kräfte aufgeboten werden.«

Später präzisierte Clausewitz, dass es in der »Natur« der vorhandenen Kräfte (der Streitkräfte, des Terrains, der Bundesgenossen) und ihres Einsatzes liege, »daß sie nicht alle zugleich in Wirksamkeit treten können«, weshalb »eine vollkommene Vereinigung der Kräfte in der Zeit« der Natur des Krieges zuwiderlaufe. Und er fügt an:

»Nun könnte dies an und für sich kein Grund sein, die Steigerung der Anstrengungen für die erste Entscheidung zu ermäßigen [...]; allein die Möglichkeit einer spätern Entscheidung macht, daß der menschliche Geist sich in seiner Scheu vor allzu großen Anstrengungen da hinein flüchtet [...].«

Was geschieht hier? Ganz einfach – die Gegner imitieren einander, »und so wird durch diese Wechselwirkung wieder das Streben nach dem Äußersten auf ein bestimmtes Maß der Anstrengung zurückgeführt«.

Schließlich, und das ist der dritte Punkt, führt der Krieg nicht zu einer absoluten Entscheidung, sondern stets zu einem relativen Ausgang.


René Girard, Im Angesicht der Apokalypse. Clausewitz zu Ende denken

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