Imre Kertész »Kaddisch für ein nicht geborenes Kind« (Audio)

18.12.2006 Sprache/Meta

Imre Kertész »Kaddisch für ein nicht geborenes Kind« (Audio)Rezension

Vernünftige Erklärung
Udo Samel liest Imre Kertész’ »Kaddisch für ein nicht geborenes Kind«

»Für das Böse«, sagt B., der Ich-Erzähler in Imre Kertész’ Roman »Kaddisch für ein nicht geborenes Kind«, »gibt es immer eine vernünftige Erklärung«. Das wirklich Irrationale und tatsächlich Unerklärbare aber sei nicht das Böse, sondern das Gute.

Darauf nichts mehr. Kein Wort, kein Laut. Stille. Die schwarze Stille der Beklemmung, in die der Zuhörende nach diesem ungeheuerlichen Satz versinkt. Kalt und dunkel ist es um ihn, und zugleich ist er froh über diese Stille nach dem langen, unerbittlichen Monolog B.s, von dem er nun ein Drittel gehört hat. Und er möchte dem Lesenden (Udo Samel), dem Regisseur (Felix Partenzi), den Schnitttechnikern (Andrea Mayr und Christoph Amann) für diese Stille danken, in die sie ihn am Ende der ersten der drei CDs der Gesamtaufnahme des Romans entlassen haben, als wäre sie Teil der Aufnahme – und in gewisser Weise ist sie es auch, denn natürlich haben sie es nicht dem Zufall überlassen, wann die CD endet. Und danken möchte er ihnen auch, weil sie ihn mit allem Beiwerk – Musik, Geräuschen, An- und Absagen – verschont haben und nur den Text bieten, den kargen, klagenden, anklagenden Monolog, das Totengebet B.s, das er für sein ungeborenes Kind spricht.

Leben als Überleben

B., der nach Auschwitz deportierte Jude, der überlebt hat und sein Leben seither nur noch als ein Überleben begreifen kann, will kein jüdisches Kind in eine Welt setzen, in der Auschwitz möglich war und immer noch möglich ist. Sein »Nein!, das er dem Wunsch seiner Frau nach einem Kind entgegenschleudert, richtet sich aber nicht, wie seine Frau denkt, gegen die Erfahrung, als Jude geboren zu sein, und folgt nicht dem Wunsch, seinem Kind – oder sich? – den Schrei: »Ich will kein Jude sein!« zu ersparen. Sein »Nein!« kommt aus einer noch umfassenderen Einsicht – dem in seinen Kindheitserfahrungen wurzelnden Grundsatz nie »Vater, Schicksal, Gott eines anderen Menschen sein« zu wollen. Denn B., der bereits als Fünfjähriger ins Internat kam und über Jahre den dort herrschenden autoritären Prinzipien ausgesetzt war, sieht seine Kindheit, Kindheit generell, im Lichte – oder besser: Dunkel – der autoritären Vater-Herrschaft, die, mit Thomas Bernhard gesprochen, »immer Schreckensherrschaft« ist – und er erkennt in ihr dieselben Mechanismen, die ihn nach Auschwitz brachten. Um diese unendlich sich perpetuierende Schreckensherrschaft, nicht selbst fortzusetzen, versagt sich B. das Kind, nach dem er sich doch sehnt, und spricht dem nur in ihm lebenden Ungeborenen, Ungezeugten das Totengebet.

Auf Distanz

Udo Samel liest diese Klage mit rauer, manchmal gehetzter, manchmal gepresster Stimme, die den Zuhörenden nicht umwirbt, ihn nicht einspinnt, sondern ihn auf Distanz hält. Sie ist, wie man im Zuhören immer mehr begreift, der Lebensgeschichte B.s, die jener erzählt, um die Gründe für sein »Nein!« anzugeben, vollkommen angemessen. Samel gelingt es in seinem Vortrag, die in einer Staffelung direkter und indirekter Rede mäandernden Sätze (die in der gedruckten Ausgabe oft über ein, zwei Seiten gehen) durch Crescendo und Decrescendo, durch Accelerando und Ritardando präzise zu modulieren und dadurch eine Spannung zu erzeugen, in der der Zuhörende nie Gefahr läuft, sich zu verlieren, durch die aber die verschiedenen Stimmen in ihm zum Leben erweckt werden, die in der einen sich erinnernden und diese Erinnerung reflektierenden Erzählerstimme – in B., in Kertész – wohnen.


Imre Kertész: »Kaddisch für ein nicht geborenes Kind«. Aus dem Ungarischen von György Buda und Kristin Schwamm. Ungekürzte Lesung mit Udo Samel. Patmos Verlag, Düsseldorf 2006. 3 CDs, 18,90 Euro

Die Berliner Literaturkritik, 18. Dezember 2006

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