Imre Kertész »Dossier K.«

26.07.2007 Sprache/Meta

Imre Kertész »Dossier K.«Rezension

Gescheiterte Ermittlung gegen sich selbst
»Dossier K.«: Eine autobiographische Fiktion von Imre Kertész


Zwischen den Gattungen einer »regelrechten Autobiographie« und einem »Roman«, wie es in der Vorbemerkung heißt, siedelt Imre Kertész sein jüngst erschienenes Buch »Dossier K.« an, das im Deutschen den bernhardschen Untertitel »Eine Ermittlung« trägt. Und mit diesen vier Begriffen – Autobiographie, Roman, Dossier, Ermittlung – hat sich über dem Leser, noch bevor er überhaupt mit der Lektüre des Textes begonnen hat, bereits das Netz der Paradoxien aufgespannt, in dessen Widerspruchsfäden er sich schon bald verfängt. Denn in dem Buch, das sich eben noch als ein autobiographischer Roman vorstellte, heißt es bereits auf Seite 12: »... eine solche Gattung gibt es gar nicht. Entweder ist es Autobiographie oder ein Roman.«

Die Vorgeschichte zu dem Buch besagt, Kertész’ ungarischer Verlag Magvető habe einen Bildband über ihn herausbringen wollen in Verbindung mit einem »General«-Interview, das Kertész angeblich vor drei Jahren mit dem ihm befreundeten Lektor Zoltán Hafner geführt habe. Bei der Durchsicht des auf den Tonbandaufnahmen beruhenden Textmaterials habe Kertész jedoch das Manuskript verworfen und stattdessen mit dem Schreiben eines fiktiven Interviews begonnen, für das er die ursprüngliche Konstellation beibehielt. Wenn es so war: Inwieweit der jetzt vorliegende Text auf dem ursprünglichen Material beruht, wissen wir nicht. Aber selbst wenn Kertész es wie eine Quelle benutzt hat, was seiner Arbeitsweise entspräche, so ist sein Buch doch mehr als die (Re-)Konstruktion des Interviews.

Es ist die Untersuchungsakte, das Dossier, das mit dem Ziel angelegt wird, eine Ermittlung gegen sich selbst zu führen. Und zugleich ein Interview, über das behauptet wird, das fragende Ich sei nicht mit dem befragten identisch, sondern unterscheide sich von ihm in Alter, Religionszugehörigkeit, Erfahrungen. Die Aufspaltung also einer Person in zwei – ein Konstrukt, das weder für einen Schriftsteller noch für seine Leser etwas Ungewöhnliches ist, sondern der Normalfall. Das Paradox ergibt sich erst daraus, dass eine der Aufspaltungen behauptet, wiederum das Ganze zu sein – denn Befragter des vom Autor Imre Kertész geschriebenen Interviews ist gleichfalls Imre Kertész – und Gegenstand des Gesprächs sind Kertész’ Leben und Werk. Mit dieser Verunsicherung begibt man sich in das Buch, und es überrascht dann wenig, dass es immer wieder Passagen enthält, in denen es sich selbst in den Blick nimmt und seine Konstruktion thematisiert.

Werk als »fiktive Autobiographie«

»Auch wenn man sich um eine ‚treue‛ Wiedergabe der Wirklichkeit bemüht, verändert man sie genau dann, wenn das Erzählen beginnt. Den chaotisch brodelnden oder in den Winkeln unseres Bewusstseins verborgenen Erinnerungen und Erfahrungen gibt man eine Form, und je genauer man sie ‚wiedergeben‛ möchte, desto mehr muss man sie verändern. Alles ist eine Fiktion, das Leben, vor allem der Mensch selbst, ab dem Moment, in dem er sich selbst erfindet.«

Ihm sei das, so sagt Kertész in dem in der ungarischen Wochenzeitung »Elet es Irodalom« erschienenen Interview mit Gabriella Gönczy, etwa 1955 passiert, als er beschlossen habe, Schriftsteller zu werden. Da habe die Verwandlung seines Lebens in das eigene begonnen, mit Hilfe des Schreibens, der Fiktion. Dieser Prozess habe ihn am meisten interessiert und deshalb habe er ihn zu seinem Thema gewählt – seine Romane wurden als Autobiographie getarnte Fiktion beziehungsweise als Fiktion getarnte Autobiographien.

Auch »Dossier K.« ist also weder eine „regelrechte Autobiographie« noch ein Roman, sondern eben eine »autobiographische Fiktion«. Als Interview ist es damit in Kertész’ Werk nur der Form nach etwas Neues, denn im Grunde setzt es die Reihe der autobiographischen Fiktionen fort, als die auch die vorangegangenen Romane – »Roman eines Schicksallosen«, »Fiasko«, »Kaddisch für ein nicht geborenes Kind«, »Galeerentagebuch«, »Liquidation« – verstanden werden können. In ihnen erfindet der Autor erzählend sein Leben, sich selbst:

»Die Welt der Fiktion ist eine souveräne Welt, die im Kopf des Autors geboren wird und den Gesetzen der Kunst, der Literatur gehorcht. Und das ist ein großer Unterschied, der sich in der Form, der Sprache und der Handlung des Werkes widerspiegelt. Bei der Fiktion sind alle Details vom Autor erfunden, jedes Moment ...«, heißt es in »Dossier K.« – und das gilt eben auch, wenn es das eigene Leben ist, das erzählt wird.

Zwiegespräch ohne Abgründe

Doch im Gegensatz zu Kertész’ früheren Büchern wird in „Dossier K.« das Erschütternde des Erzählten für den Leser nicht wirklich deutlich. Die Interviewsituation bringt es mit sich, dass – trotz Vorbemerkung und autoreferentieller Passagen – die ausschnitthafte Nacherzählung und Reflexion der eigenen Lebensgeschichte und die der Eltern und Großeltern blass bleibt, eben nur mitgeteilt, und dass sie nicht wie in den früheren Romanen zu einem schmerzhaften Prozess wird, der den Leser mitreißt, ihn der Verzweiflung, der Wut, der Beklemmung, der Trauer aussetzt, der ihn physisch wie psychisch angreift – und ihn läutert.

»– Wie hast du die Nachricht vom Tod deines Vaters aufgenommen? – Das sind unmögliche Fragen. Du zwingst mich zu Phrasen. – Mag sein. Es würde mich trotzdem interessieren. – Vielleicht hast du recht, vielleicht lohnte es sich, darüber nachzudenken, wie sich mein Leben gestaltet hätte, wenn ich bei meinem Vater geblieben wäre.« (Seiten 92–93)

»– Viel wichtiger war aber ein ganz anderes Gefühl, eine Art Erkenntnis, die zu formulieren mir erst viele, viele Jahre später, in Fiasko, gelang: ‚Ich hatte das einfache Geheimnis der mir zugedachten Welt begriffen: überall und jederzeit erschießbar zu sein.‛ – Sicher eine niederschmetternde Erkenntnis ... – Ja, und auch wiederum nicht. Weißt du, ...« (Seite 16)

Das sind nur zwei Beispiele von vielen. Sie machen, gerade auch in den Passagen, in denen aus den früheren Werken zitiert wird, deutlich, wie das Ungeheuerliche der eigenen biographischen Erfahrung – der Kertész sonst eine Stimme, eine Sprache zu geben vermochte, in der die Schilderung des persönlichen Erleidens individuell bleibt und zugleich exemplarisch wird – durch die Unangemessenheit der Form an Gewicht verliert.

»– Ich würde dich gern noch eingehender darüber befragen, aber ich gestehe, als Nichtjude macht mich das Thema ein wenig befangen. – Also eine sogenannte heikle Frage? – Ja, leider ist sie das in Ungarn immer noch. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt zumutbar ist ... – Stell sie, entweder antworte ich darauf oder nicht. – Ich würde dich gern nach dieser gewissen jüdischen Solidarität befragen ...« (Seite 129)

»Dossier K.« ist leider keine bohrende (Selbst-)Befragung, keine »Ermittlung«, wie der deutsche Untertitel verspricht (eine »Ermittlung« gegen Unbekannt vielleicht sogar). Das Buch mutet dem Leser keine Abgründe zu – K., so scheint es, ist niemand, bei dem Verdunkelungs- und Fluchtgefahr besteht. Sondern es ist ein Zwiegespräch mit sich selbst, das den Leser ausschließt. Der Leser findet keinen Platz in der warmen Küche des Einverständnisses, der Rücksicht, des Immer-schon-vom-anderen-Wissen von Interviewer und Interviewtem; er steht gewissermaßen in der Tür, während die beiden anspielungsreich miteinander kommunizieren, auf das Stichwort warten, das den Einsatz zu ihrer Rede gibt, während sie Höflichkeitsfloskeln und Zitate tauschen, (Ausweich-)Manöver, gegen die nichts zu sagen wäre – wenn nicht Kertész der Autor dieses Buchs wäre und sein Gegenstand nicht so ernst.

Und der Leser wird den Eindruck nicht los, dass zwischen den beiden Gesprächspartnern alles schon einmal gesagt wurde und sie ihm jetzt eine gut eingespielte Vorstellung vorführen. Es gibt zwischen ihnen kaum eine Unsicherheit, keine Kritik, keinen Widerspruch, keinen Streit. Nichts, was der Leser durch die Teilnahme am und die Einfühlung in den anderen und dadurch auch an sich selbst »erfahren« könnte, dem er sich aussetzen, zu dem er sich verhalten müsste.

Schonungslose Selbstbefragung im »Galeerentagebuch«

Wie anders war das in den früheren Romanen. Auch sie waren Ermittlungen – wie es wohl jedes Buch von Bedeutung ist. Aber in ihnen war kein Platz für ein verharmlosendes Versteckspiel mit nicht ganz uneitlen Scharmützeln, sie waren überhaupt kein Spiel, außer natürlich ein literarästhetisches, aber von welcher Ernsthaftigkeit. Vieles von dem, was Kertész in »Dossier K.« schreibt, hat er schon einmal, zweimal, dreimal erzählt – aber so viel besser. Und »Dossier K.« sollte doch an denselben künstlerischen Maßstäben gemessen werden wie die anderen Bücher.

Am »Galeerentagebuch«, das zu den genauesten, schonungslosesten Selbstbefragungen, Selbstbeobachtungen, Selbstvergewisserungen, Zeugenschaften der Weltliteratur gehört. Kertész unternimmt hier den Versuch einer Selbstpositionierung in einem starren System (dem stalinistischen, aber es steht paradigmatisch für jede Art von Totalitarismus), das jedem, der in seine Fänge geraten ist, das Recht auf eine individuelle Existenz abspricht, obgleich es zugleich von ihm konstituiert wird und auf ihn angewiesen ist. Und er zieht den Leser dort mit hinein, bis dieser Atembeklemmungen verspürt und eine solche Trostlosigkeit wie noch nie in seinem Leben – und dennoch gibt er ihm einen Hoffnungsstrahl, den Hoffnungsstrahl des Trotzdem, der nur aus der eigenen, das heißt selbstbestimmten Arbeit zu kommen vermag.

An »Fiasko«, diesem Buch über die Überwindung des Scheiterns durch erneutes Scheitern – und, als Kippfigur, das Gelingen, denn das beschriebene Scheitern gelingt ja im Roman als Roman.

Und an »Kaddisch«, der Totenklage des nach Auschwitz deportierten Juden B., der überlebt hat, sein Leben aber seither nur noch als ein Überleben zu begreifen vermag. Und der kein jüdisches Kind in eine Welt setzen kann, in der Auschwitz möglich war und immer noch möglich ist. Und der sich doch nach diesem Ungeborenen sehnt und es liebt – und die Welt anklagt, die ihm – und sich – Auschwitz antat und seinen Sohn, seine Tochter tötete, noch bevor sie geboren wurden.

K. erzählt auch, wie er als Kind im Haus der orthodoxen Tante am Morgen sorglos deren Schlafzimmer betrat und sich »darauf sofort, nicht laut, nur innerlich schreiend« zurückzog – denn: »Es saß eine kahlköpfige Frau in einem roten Morgenrock vor dem Spiegel.« Und wie er Zeit brauchte, bis er in dieser Frau seine Tante wieder erkannte – und später dann, »als es immer wichtiger wurde, daß ich auch Jude bin, denn es wurde ja langsam offenbar, daß dies im allgemeinen mit dem Tode bestraft wird«, sich mit dem (Er-)Schrecken von damals in eins setzte, sich mit ihr identifizierte, indem er sich auf einmal dabei ertappte, »daß ich schon sehr wohl wußte, was ich bin: eine kahlköpfige Frau in einem roten Morgenrock vor dem Spiegel«.

Eine Sprache, die nicht verstört

Diese Szene, die auf ein autobiographisches Erlebnis zurückgeht, erzählt Kertész auch noch einmal in »Dossier K.«. Aber hier hat sie bei weitem nicht die Kraft, den Leser zum Augenzeugen einer schmerzhaften Selbsterkenntnis zu machen – vielleicht liegt es daran, dass sie, wie viele andere Episoden in dem Buch, eingebunden ist in zu viel Erklärendes, dass sie nicht für sich steht und dem Leser zumutet, mit ihr zurechtzukommen. Und dass sie in einer ganz anderen Sprache erzählt wird. Nicht in der vorwärts treibenden, gehetzten von »Kaddisch«, sondern der anekdoten- und plaudertonhaften dieses Interviews, die das Gegenteil einer Sprache der »Ermittlung« ist.


Imre Kertész: »Dossier K. Eine Ermittlung«. Aus dem Ungarischen von Kristin Schwamm. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2006. 288 Seiten, 19,90 Euro


Die Berliner Literaturkritik, 5. Februar 2007

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