Michael Roes »Geschichte der Freundschaft«

03.04.2015 Sprache/Meta

Michael Roes »Geschichte der Freundschaft«Rezension

 

Mehr als eine Geschichte der Freundschaft
Michael Roes erzählt von der Liebe zwischen zwei Männern, Algerier der eine, Deutscher der andere, und ihrer nicht zu überbrückenden Fremdheit


Einer der beständigen Vorwürfe gegenüber der deutschen Gegenwartsliteratur lautet, sie habe zu wenig Welthaltigkeit. Michael Roes, dem Reisenden und Weltenerkunder, ist dieser Vorwurf nicht zu machen, seine Bücher schöpfen aus langen Aufenthalten im Jemen, in den Vereinigten Staaten, in Israel und in China. Und auch wenn es in ihnen auf den ersten Blick immer nur um ganz private Konflikte zwischen Menschen geht, sind diese doch untrennbar mit der konkreten politischen Situation und den gesellschaftlichen Widersprüchen verbunden, die dem Reisenden im fremden Land begegnen. Es sind Reisebücher, die von Kulturen im Auf- und Umbruch erzählen, von Strukturwandel und Modernisierungsprozessen, den Gewinnen und Verlusten, die die Transformationen mit sich bringen. Ihrem Sog kann sich der männliche europäische Protagonist, der seine vertraute Umgebung verlässt und die schillernde Fremde betritt, nicht entziehen, von ihnen erzählt er.

Nicht als Tourist, der doch immer ein zu großes Stück seiner eigenen Welt mitschleppt und zu sehr nur die Oberflächen bereist, um sich der Erfahrung absoluter Fremdheit wirklich hingeben zu können, sich den Verständnisschwierigkeiten, die aus dem Zusammentreffen zweier Kulturen, zweier Sprachen entstehen, auszusetzen, betritt er die Fremde, sondern er überschreitet auch innerlich eine Grenze, geht das Risiko ein, sich von Städten und Landschaften und den sie bewohnenden Menschen infiltrieren zu lassen, sich tiefer zu verstricken, nicht nach ein paar Tagen oder Wochen braungebrannt und mit Urlaubsfotos im Gepäck einfach zurückzukehren in sein vertrautes Zuhause.

Von einer solchen Verstrickung erzählt Roes auch in seinem jüngsten Roman. Dr. Matthias Kahn, Pathologe in einem Berliner Krankenhaus, verlebt seine Sommerferien in Algerien, in der spannungsgeladenen Atmosphäre der Kabylei, der am dichtesten besiedelten und von hoher Arbeitslosigkeit geprägten Region im Nordosten des Landes. Anfang des Jahrtausends kam es hier unter den Studenten zu Unruhen, von Polizei und Geheimdienst mit großer Brutalität unterdrückt. »Blühende Jugend? Picklige Jünglinge mit lückenhaftem Gebiss und abgekauten Fingernägeln, die nur von Kaffee und Zigaretten und fiebriger Ungeduld zu leben scheinen«. Yanis Choukri ist einer von ihnen, im rebellischen Untergrund aktiv. Ausgerechnet mit ihm schließt der viele Jahre ältere Kahn Freundschaft.

Aber ist es »nur« das, was die beiden verbindet? »Geschichte der Freundschaft« heißt das Buch zwar, und in der Gattungsbezeichnung firmiert es als Roman, aber Roes verbindet auch hier, wie bei den Vorgängern »Leeres Viertel« und »Die fünf Farben schwarz«, die eigentliche Erzählung mit reflektierenden, theoretisierenden Passagen, Zitaten, Nacherzählungen alter und neuer Mythen, in denen, dem Thema entsprechend, berühmte Freundespaare auftreten und mit deren Hilfe er, was Freundschaft war und ist, sein könnte und sein sollte, zu bestimmen sucht.

Dabei wird früh klar, dass es zwischen Kahn und Yanis, jedenfalls was Kahn betrifft, nicht um Freundschaft geht, sondern um die leidenschaftliche Anziehung der Körper, um Begehren und Eroberung, um Sex und Liebe also. Kahn macht aus seiner Homosexualität alles andere als ein Geheimnis, und dass sich dennoch ein Diskurs der Freundschaft, der immer wieder die Abgrenzung gegenüber der Liebe sucht und sie als ihr überlegen behauptet, durch das Buch zieht und ihm seinen Titel gibt, kann nur als ein Zugeständnis an die homophobe Welt des algerischen »Freundes“ und der dort regierenden Mechanismen der Leugnung den herrschenden rigiden Moralvorstellungen gegenüber verstanden werden – Vereinnahmung durch Anverwandlung, Gefügig-Machen durch Mimikry.

Als Yanis bei einer Demonstration verletzt wird, zur Gegenwehr übergeht, auf einen Polizisten schießt und diesen verwundet, gilt er als vogelfrei. Er taucht unter, und Kahn begibt sich, als er, von Deutschland aus, nichts zur Rettung des Geliebten auszurichten vermag, auf die Suche, auf eine Odyssee durchs Land. Von der Küstenstadt aus, wo er Yanis begegnet ist und einen Sommer mit ihm gelebt hat, durchquert er die Wüste und gelangt bis tief in den Süden, an die Grenze zu Mali, wo er den Schwerverletzten endlich findet und illegal über die Grenze bringen kann.

Es ist eine Rettung, die einer Entführung nur allzu ähnlich sieht, wundersam und von Roes auch wie ein Wunder behandelt, kaum auserzählt, denn es geht ja vor allem um einen Perspektivenwechsel, per Relaisschaltung vollzogen – der Fremde wird mit nach Hause genommen und erst dort, in der nun ihm fremden Umgebung, in die er sich nicht einzufügen vermag, zum wirklich Anderen, an dessen unauflösbarer Fremdheit sich die Umgebung wund reibt. Spätestens hier, im dritten Teil des Buches, der in Berlin spielt und den Titel »Stadt des Glücks« trägt, aber alles andere als glückbringend ist, löst sich das vordem behauptete Konstrukt bloßer Freundschaft zwischen Kahn und Yanis schmerzhaft auf. Denn aus der Begegnung der beiden Männer, die sich in der unfreien Kabylei zueinander hin gezogen fühlten und dennoch autonom blieben, wird nun, im sogenannten freien Westen, die Geschichte einer Abhängigkeit, wie man sie von Beziehungen ungleich starker Partner kennt, die nicht nur freundschaftlich verbunden sind, sondern finanziell und sexuell. Yanis reagiert auf die Ansprüche Kahns mit der klassischen Antwort des in diesem Verhältnis Unterlegenen: Verweigerung des Körpers, Verweigerung der Kommunikation.

Aber nicht nur Kahns Erwartungen entzieht sich Yanis, sondern auch seinen eigenen – die Neugeburt im Westen gelingt nicht, vielleicht weil sie zu sehr gefordert wird, und zu Bedingungen, die er nicht erfüllen kann. Wovon er immer geträumt hat, frei von allen ihn einengenden Autoritäten zu sein, führt nun, angesichts des Scheiterns vor zu vielen Optionen, die Entscheidung und Initiative erfordern, in die Depression, die ja nichts anderes als eine stille Form der Autoaggression ist. Sieben Jahre hält Yanis durch, dann ist das Maß des Erträglichen erreicht. Er, der Entwurzelte, fliegt zurück in die Heimat, die keine mehr ist, nicht mehr sein kann – und findet den Tod.

Zurück bleibt Kahn – mit dem gemeinsamen Sohn Milan, den er aus Algerien retten, entführen muss, wie er Yanis rettete und entführte, und dessen Existenz davon zeugt, dass es zwischen beiden Männern eben Liebe war und nicht Freundschaft. Denn Milans Mutter, eine ukrainische Galeriebesitzerin, eine Gestrandete, Verlorene wie Yanis, zur Abtreibung entschlossen, überträgt das Kind auf Kahn, als wäre er die wahre Mutter. Wie so oft in den antiken Mythen, auf die Roes so gern zurückkommt, sind die Frauen auch hier, in der Geschichte, nicht Subjekte der Handlung, sondern bloße Werkzeuge einer männlichen Dramaturgie – und hier taucht also eine Schwangere als Brutkasten auf, um den beiden Männern zu einem gemeinsamen, mutterlosen Sohn zu verhelfen.

Roes hat ein sehr männliches Buch geschrieben, in dem die Frauen bloße Statisten sind und verschwinden, sobald sie nicht mehr gebraucht werden. Es ergeht ihnen nicht so anders wie den Frauen in der Kabylei, die, weggesperrt in ihre Häuser, kein autonomes Existenzrecht besitzen, sondern immer nur in Abhängigkeit von den Männern agieren bzw. reagieren. Dem entspricht, dass, von Aristoteles über Nietzsche zu Wittgenstein, Kracauer und Adorno, zu Derrida und Barthes, in den Reflexionen über Liebe und Freundschaft nur aus männlichen Quellen zitiert und nur von maskulinen Freundespaaren erzählt wird – als ob Freundschaft unter Frauen und zwischen Männern und Frauen nicht möglich wäre, als ob zu einer »Geschichte der Freundschaft« die weibliche Seite nicht dazugehörte.

Erst ganz am Ende erscheint eine Frau, Zubaida, ketterauchende Studentin, intelligent, mutig, abgeklärt, selbstbewusst, eine dea ex machina, die neben Kahn im Flugzeug sitzt, ihm in Algerien dann immer wieder über den Weg läuft, ihn beschützt und ihm bei der Entführung von Milan hilft. Sie lenkt, ganz allmählich, behutsam, Kahns Aufmerksamkeit auf die Frauen im Land, die alten, wie Yanis’ Mutter, die das Haus nie verlässt, um an das nahe Meer zu gehen, die jüngeren, wie Yanis’ Schwester, die den vom Vater ausgesuchten Verlobten abgelehnt hat und seither wie eine Gefangene gehalten wird.

Der Kampf der Frauen richtet sich nicht nur gegen den autoritären Staat, den autoritären Vater, er wird in jeder Familie, jeder Ehe und auch hier im Buch gekämpft. Nicht mit Flüchen, Steinen, Brandsätzen, sondern in den und durch die Lücken, die sich zeigen und die sie nutzen müssen. So wie Zubaida es tut.

Kahn fragt sie am Ende, ob sie mit den jungen kiffenden, von ihren Vätern tyrannisierten Männern nicht Mitleid habe. »Ich glaube nicht, dass ich sie bedauere«, antwortet sie. »Jahrhunderte lang hatten sie die Macht. Und du siehst ja selbst, was sie damit angestellt haben.«


Michael Roes: »Geschichte der Freundschaft«. Roman. Matthes & Seitz 2010, 320 Seiten, 22,90 Euro

fixpoetry, 3. April 2015

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