Karl Löwith »Der japanische Geist«

22.01.2015 Sprache/Meta

Karl Löwith »Der japanische Geist«Rezension


Der japanische Geist
In zwei Essays untersucht Karl Löwith die mentalen Kräfte des Kriegsgegners der Alliierten im Zweiten Weltkrieg


Während des Zweiten Weltkrieges fragten sich die Alliierten, insbesondere die Vereinigten Staaten, wie es um die mentalen Kräfte ihrer Kriegsgegner bestellt war. Soziologen, Sozialpsychologen, Psychoanalytiker, Ethnologen und Philosophen wurden beauftragt, Einschätzungen über Traditionen, kollektives Bewusstsein, psychische Kampfkraft, gesellschaftliche Bindungskräfte abzugeben, um ein möglichst komplexes Bild zu zeichnen und Punkte der gegnerischen Schwäche, Angriffspunkte also, aufzuzeigen.

Aus diesen Versuchen, Psychogramme der Achsenmächte zu erstellen und die Genese der Diktaturen aus geschichtlichen Leitbildern herzuleiten, ist eine ganze Gattung kulturwissenschaftlicher Literatur hervorgegangen, deren prominenteste Beispiele Siegfried Kracauers »Von Caligari zu Hitler« und Ruth Benedicts Japan-Studie »The Chrysantemum and the Sword – Patterns of Japanese Culture« sind.

Auch Karl Löwith, Jahrgang 1897, der bei Edmund Husserl und Martin Heidegger studiert hatte, versuchte während des Krieges, die mentalen Stärken und Schwächen von einem der Kriegsgegner zu beschreiben: Japan. Löwith, der 1934 aus Deutschland emigrieren musste und zunächst in Italien lebte, war 1936 nach Japan gekommen, wo er fünf Jahre an der Universität Sendai Philosophie lehrte. In dieser Zeit hatte er Gelegenheit, Sitten und Bräuche, Alltag, Geschichte und Kultur Japans zu studieren. Insbesondere die so anderen religiösen Vorstellungen interessierten ihn. In der pragmatischen Verbindung des Shintoismus und des Zen-Buddhismus sah er eine gleichsam ,intakte Antike‘, ein Heidentum, das die Geschichte, anders als die messianisch geprägte jüdisch-christliche in Europa und die islamische im Nahen Osten, nicht teleologisch und eschatologisch deutet.

Die lange Phase der Abgeschlossenheit und Isolation der japanischen Inseln von allen Nachbarn, die nicht mal den Versuch einer Expansion zuließ, sondern, bei der Abwehr aller von außen kommenden Einflüsse, zur stetigen Verfeinerung der eigenen Kultur führte, zur Stilisierung in allen Lebensbereichen, wurde Mitte des 19. Jahrhunderts beendet. Japan öffnete sich gegenüber dem Westen, nahm Handelsbeziehungen auf, ließ moderne Technologien zu, setzte sich den kulturellen Einflüssen Europas und Amerikas aus. Dieser Moderne-Schub erfolgte jedoch nicht aufgrund innerer Spannungen, die Öffnung und Emanzipation erzwungen hätten, sondern durch kaiserlichen Erlass, sie waren Ergebnis des uralten, über Generationen tradierten Gehorsams, von Autoritätshörigkeit und Treue.

Umgekehrt hatte die japanische Kultur immensen Einfluss im Westen: Der japanische Farbholzschnitt revolutionierte die europäische Bildauffassung und wirkte mit seinen Aussparungen, Abstraktionen, Dynamiken in alle Avantgarden der Vorkriegs- bis Zwischenkriegsmoderne; die japanischen Bauformen waren entscheidende Ideengeber für die Architekten von den Wiener Werkstätten bis hin zum Bauhaus und für die Wiederaufbau-Architektur der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Städte.

Der kulturelle Austausch war also seit mehreren Jahrzehnten rege, das gegenseitige Interesse an der Fremdheit groß – und jetzt waren beide Sphären Kriegsgegner, und die Faszination schlug um in Unverständnis, Ablehnung, Unter- wie Überlegenheitsgefühle, Beharrung auf dem Eigenen, Dämonisierungen. Dies ist bei Kriegsgegnern immer der Fall, auch bei den von Deutschland überfallenen und besetzten Nachbarländern führten die Aufwertung nationaler Stereotype und die allgegenwärtige Propaganda wirksam zur Konstruktion einer geistigen Gegnerschaft, die in dem Anderen nicht das Eigene, Ähnliche, Vertraute sucht, sondern das Fremde.

Und das ist Löwiths Grundthese: dass alle Versuche der Japaner, sich westliches Denken, westliche Kunstauffassung und Ästhetik anzueignen, nur die Oberfläche berühren, nicht aber die mentale Tiefenstruktur. Vollzogen wurde in den Jahrzehnten der Öffnung und Modernisierung lediglich eine Aneignung der materiellen Seite der westlichen Zivilisation, ihrer Technologien, ihrer Moden, ihres Konsums. Und das sogar mit großem Erfolg. Aber unangetastet blieb das Wertesystem, das, Löwith zufolge, nicht auf Subjektivität und Individualität beruht, sondern auf Treue und Solidarität, der Bereitschaft, das eigene Leben für Land und Kaiser zu opfern.

Denn zusammengehalten, davon ist Löwith überzeugt, wird Japan durch Ahnenkult und die Familie, wobei die kaiserliche Familie – das »Große Haus«, dessen Mitglieder von der Sonnengöttin abstammen – an oberster Stelle steht; um sie gruppieren sich die »Kleinen Häuser« der Menschen. Im Staatsaufbau spiegelt sich die Familienstruktur, die den Großvater an oberste Stelle setzt und über die männliche Linie bis zum Enkel Kontinuität verbürgt; umgekehrt ist die Familie »keine isolierte Einheit, sondern Zentrum und Substanz des Staates und der Gesellschaft«. Das Individuum geht ganz in diesen Strukturen auf und kann kein Außen gewinnen. Nation und Familie sind eins.

Der Shintoismus ist der heidnische Kult dieses Staatsaufbaus, eine Trennung von Staat und Religion, Säkularisierung und Laizismus undenkbar. »Die Autorität des kaiserlichen Hauses wird dem Volke nicht aufgezwungen oder mit Macht durchgesetzt, sondern traditionell als die natürliche Grundlage des Gemeinschaftssinns der Menschen anerkannt.« Die Solidarität, die die japanische Gemeinschaft zusammenhält, ist nicht demokratisch legitimiert, sie erlaubt weder Kritik noch das Verfolgen individueller Leidenschaften und Prinzipien, sie verhindert den Zusammenschluss und die Kooperation von Gleichgesinnten – wenn man das eine Interesse, sich gegen ein allen gemeinsames Außen abzuschließen und zu behaupten, ausnimmt.

Um diese unauflösliche Verbindung aus Kaiserkult und Religion haben die Nationalsozialisten die Japaner beneidet – sie selbst konnten Führerkult und Volksgemeinschaft nur über die Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft und durch totalitäre Gewalt durchsetzen. Bei den Japanern dagegen besteht eine Identität von politischem und religiösem System, was, so Löwith, zur Folge habe, dass ihr Nationalismus natürlicher und realer, totaler und existentieller als der der totalitären Staaten sei.

Hinzu kommt ein Wertesystem, gestützt von Zen-Buddhismus und Ehrenkodex der Kriegerkaste, den Samurai, das den Tod verachten lehrt. Japanische Soldaten träumen, wenn sie in den Krieg ziehen, nicht davon, siegreich und ruhmbeladen zurückzukehren, sondern einen heldenhaften, ehrenvollen Tod zu sterben und im Yasukuni-Schrein in Tokio Andenken zu finden, dort also, wo die Seelen all derer einkehren, die für den Kaiser gestorben sind und wo der kaiserliche Meister die Toten ehrt.

Die so andere Sicht auf den Tod, war denn auch das, was die Alliierten bei der Analyse des japanischen Geistes und der Kräfte, die ihn konstituieren, am meisten interessierte. Denn aus ihr formte sich eine andere Kampfeshaltung – die sich in den mythisierten Kamikaze am deutlichsten zeigte – und führte auf Seiten der Amerikaner zu einem starken Anstieg von Kriegsneurosen und Traumatisierungen, was die Marineleitung stark beunruhigte. Erklärungsversuche für den so anderen Umgang mit dem Tod, der zu anderen Methoden der Kriegsführung seitens der Japaner führte, waren da willkommen, um die eigenen Soldaten psychologisch zu schulen und ihre mentalen Abwehrkräfte zu stärken. Die beiden Essays von Karl Löwith waren hierzu ein Baustein. Und für uns Heutige sind sie ein Zeitdokument, dessen Erklärungsmuster noch immer wirksam sind, wenn außerordentliche Ereignisse und wie ihnen in Japan begegnet wird, uns herausfordern – wie zuletzt der GAU in Fukushima.


Karl Löwith: »Der japanische Geist«. Mit einem Vorwort von Lorenz Jäger. Aus dem Englischen von Alexander Brock. Matthes & Seitz 2013, 74 Seiten, 12 Euro

fixpoetry, 22. Januar 2015

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