Robert Macfarlane »Karte der Wildnis«

06.10.2015 Sprache/Meta

Robert Macfarlane »Karte der Wildnis«Rezension

Die Wildnis ist überall
Robert Macfarlane wandert durch Großbritannien und Irland und findet die Wildnis in sich


Die Wildnis ist überall. Zu dieser Einsicht gelangt Robert Macfarlane am Ende seines Buchs »Karte der Wildnis«, nachdem er viele urtümliche Orte in Schottland, England, Wales und Irland bewandert, in eiskalten Seen und im stürmischen Meer gebadet hat, auf Bäume geklettert, durch Moore und durch uralte, lange schon zugewucherte Hohlwege gestreift ist und viele Nächte draußen, in Schlafsack und Biwacksack gekuschelt, unter einem dunklen Nachthimmel, im Vollmondlicht, in Schneetreiben und gischtsprühendem Wind im Freien geschlafen hat.

Es ist schwer zu sagen, warum manche Menschen den Trieb, das Wilde, Undefinierte, Ungezähmte aufzusuchen so stark in sich spüren, dass es sie immer wieder hinaus treibt aus ihrer Wohleingerichtetheit in der Zivilisation, aus der Bequemlichkeit von fließend warmem Wasser, Kühlschrank, Heizung, Lattenrost und Daunenkissen. Andere verlassen nie freiwillig die Ecke am Ofen und verziehen das Gesicht, müssen sie, regnet es auch nur ein paar Tropfen, zur nächsten Ecke, um Brot zu kaufen oder Käse und frische Milch. Die Engländer sind eine Seefahrernation und genetisch wettergegerbt. Das Klima der Insel kennt rasante Wetterumschwünge en masse. Und jeder, der mal dort war, im November oder Februar, erinnert sich an die Mädchen und Jungs in kurzen Hosen, Miniröcken, bauchnabelfreien Shirts auf den Straßen und wartend vor Discotheken und Clubs, in Sprühregen, Nebelschwaden und jaulendem Wind.

Berühmt sind auch Geschichten wie die von dem Mann, der die klassischen englischen Schiebefenster in seinem Haus gegen wärmeisolierende austauschte. Mit den neuen aber so unglücklich war, dass er den ganzen Umbau rückgängig machte, weil er sich ohne den ständigen Durchzug wie erstickt fühlte – er brauchte frischen Wind im Zimmer. Die Briten haben drei Mittel gegen Dauerzug und Feuchtigkeit in ihren Behausungen gefunden: Tee, Kaminfeuer und Wolldecken. Ich denke, man sitzt, so ausgestattet, glücklicher in seinem Ohrensessel als in einem Haus, in dem Elektronik vollautomatisch Lüftungszyklen und die Pelletheizung steuert. Mit einem Feuer, das knistert und flackert, der herrlich roten Glut, hat man eine kleine Wildnis im Zimmer, und es ist nicht mehr ganz so weit zu der nach draußen.

Macfarlane wohnt in Cambridge, sicher, warm und geschützt, aber er hat eine Sehnsucht nach wilden Orten. Die treibt ihn hinaus. Er träumt von grenzenlosen Wäldern, blauem Schneelicht, frostigen Gipfeln und unermesslich tiefen Seen. Von Räumen, die noch kein Mensch betreten hat, die ohne Geschichte sind. Die gibt es natürlich nicht mehr. Man muss annehmen, dass jeder Quadratmeter auf der Oberfläche unseres Planeten schon einmal von menschlichen Füßen betreten worden ist – und wenn nicht betreten, so vermessen, überflogen und von Satelliten aus fotografiert. Und wenn wir glauben, dass das Meer und der Himmel reine Wildnis sind, weil sie immer wieder alle Spuren löschen, so täuschen wir uns. Der Mensch hat sich auch hier längst eingeschrieben mit Abgasen, Abfallprodukten, Artefakten, Licht- und Lärmemissionen. Die menschenleere Wildnis beginnt erst irgendwo jenseits des Pluto, jenseits der Flugbahn von Voyager 1 und 2.

Einerseits. Andererseits ist sie überall zu finden. Nicht nur an ausgesuchten Plätzen, hoch im Norden, auf einsamen Inseln, in pfadlosen Talkesseln, sondern schon in der Brombeer- und Schlehenhecke im nächsten Dorf. Inmitten der verbauten, asphaltierten, zersiedelten Landschaft. Man muss nur die Straße, den Weg verlassen und querfeldein gehen. Oder sich bäuchlings in Gras legen. In einen Bach schauen. Hinauf in den Himmel. Nach vielen weiten Wanderungen fernab menschlicher Behausungen versteht Macfarlane, dass die Wildnis überall, weil in uns ist.

Wir sind zu großen Teilen wild. Und daher lässt sich auch die Sehnsucht erklären, die uns in die Wildnis außer uns führt. Manche spüren sie stärker, sie brauchen von Zeit zu Zeit rauen Wind, Stille, Meeresrauschen, sie wollen hungrig sein, durstig, frieren, sich verloren fühlen in Wüsten oder auf Berggipfeln Hunderte Kilometer weit sehen, eiskaltes Wasser trinken, im Schnee baden, Wiesengeruch atmen. Sie laden sich auf mit Kräften, die inmitten unseres zivilisierten Lebens am Schwinden sind. Beim Gehen wird man leer, gewinnt der Körper gegenüber dem Verstand an Bedeutung, die Aufmerksamkeit ist auf Weniges gerichtet, dafür mit großer Intensität. Die Luft ist voller Aromen, die den Atem tiefer und tiefer werden lassen. Man grüßt Felsen, Blumen, Tiere wie Seelenverwandte, es geht nicht darum, etwas schön zu finden, in dem trivialen Verständnis, das Schönheit mit Symmetrie und glatter Oberfläche verwechselt, mit Konsumierbarkeit. Sondern um Erhabenheit, um Ernst. Wildnis ist unerschöpflich.

Am Ende erzählt Macfarlane von Stephan Graham, einem der berühmtesten Wanderer seiner Zeit. Er suchte und fand überall wilde Orte, indem er die eingezeichneten Straßen und Wege verließ – »Wandern heißt, vom Offensichtlichen abzuweichen«, schrieb er, »noch die gewundenste Straße ist dafür zu gerade« – und legte eine geistige Karte an, auf der die Wege eingezeichnet waren, die er gegangen war, die Landschaften und Orte, in denen er gelebt hatte, mit all den Gefühlen, Erinnerungen an Erlebnisse und Begegnungen, die er mit ihnen verband und die er, dachte er an diese Orte, wieder aufrufen konnte. Es war eine sinnliche Karte, voller Geräusche, Gerüche, eine Karte, auf der Jahreszeiten, Tageszeiten, Mahlzeiten eingetragen waren, Abenteuer, Verletzungen, Gefahren, er lief in ihr herum als Kind, als Heranwachsender, als Erwachsener, krabbelte, ging, rannte, schaukelte, schwamm, rodelte, kullerte, kletterte, stürzte, flog. Diese Karte war nur für ihn selbst sichtbar, fühlbar. Aber er konnte von ihr erzählen. So wie Robert Macfarlane in »Karte der Wildnis«von seiner. Und jeder von der, die er im eigenen Leben mit seinem Körper gezeichnet hat.


Robert Macfarlane: »Karte der Wildnis«. Aus dem Englischen von Andreas Jandl und Frank Sievers. Naturkunden Nr. 18, herausgegeben von Judith Schalansky. Matthes & Seitz 2015, 303 Seiten, 34 Euro

fixpoetry, 6. Oktober 2015

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